Gegenstandsbereich "Grenze"
Der am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION situierte Gegenstandsbereich „Grenze“ befasst sich mit der Erforschung von politisch-territorialen Grenzen, insbesondere von Nationalstaatsgrenzen, ebenso wie mit den oft miteinander verschränkten Grenzziehungen zwischen (Wirtschafts-)Organisationen, sozialen Gruppen, Ethnien, Generationen, Geschlechtern, als auch mit Wissens- und normativen Grenzen. Dabei sehen wir die Zusammenführung der klassischen Border Studies – der Erforschung politisch-territorialer Grenzen – mit den sozio-kulturellen Boundary Studies – der Erforschung von sozio-kulturellen Grenzziehungen – als besonders relevant an, zumal die Verbindung dieser beiden Forschungsstränge in der internationalen Forschung noch viel zu wenig Berücksichtigung gefunden hat.
Für die Untersuchung des Verhältnisses von Grenze und Ordnung erscheinen drei zentrale Forschungs- und Analyseperspektiven besonders produktiv:
a) Grenzen, Ordnungsvorstellungen und Grenzkonstellationen
Eine zentrale Perspektive ist es erstens, die hinter den Grenzziehungsprozessen liegenden Ordnungsvorstellungen und -systeme in den Blick zu nehmen, um ein tieferes Verständnis für die fraglichen Grenzen und Ordnungen zu entwickeln. Grenzen sind nicht nur Funktionen von Ordnungen, sondern auch in sich geordnet. Dabei stellt sich auch die Frage nach der Qualität der Grenzen an sich, wie z.B. ihrer Durabilität und Permeabilität.
Wenn wir Grenzen aus einer Ordnungsperspektive analysieren, treten die multidimensionalen Prozesse des Ordnens, Kategorisierens und Abgrenzens zutage, durch welche Objekte, Personen oder auch Zeiträume differenziert und oftmals hierarchisiert werden. Diese Prozesse basieren auf einem komplexen Zusammenspiel von Praktiken, Diskursen, Netzwerken und Infrastrukturen. Um die Bildung und (Wieder-)Herstellung von Ordnungen erfahr- und analysierbar zu machen, ist es sinnvoll, Aushandlungs- und Transferprozesse oder auch Konflikte in den Blick zu nehmen und zu fragen, wie diese von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren mitgesteuert und erlebt werden. An nationalstaatlichen Grenzen spielt, z.B. im Bereich der Grenzsicherheit, eine heterogene Konstellation aus staatlichen, privaten und korporativen Akteur:innen eine Rolle, die mithilfe von verschiedenen Sicherheitsdiskursen und materiellen sowie nichtmateriellen Praktiken und Infrastrukturen die nationalstaatliche Grenzordnung konstituieren. Im Bereich der Konfliktforschung kann die Analyse von Akzeptanz- und Tragbarkeitsgrenzen Aufschluss über die normativen Ordnungen von Konfliktparteien geben, die bei Überschreitungen dieser Grenzen ins Ungleichgewicht geraten oder in ihren Kernprinzipien kompromittiert werden.
b) Das Zusammenspiel verschiedener Grenzziehungs- und Ordnungsdynamiken
Zweitens interessieren wir uns für das Zusammenspiel von Grenzziehungs- und Ordnungsdynamiken, die sich gegenseitig überlagern, verstärken oder auch auflösen können. Basierend auf der Erkenntnis, dass wir uns in unserer sozialen Welt auf verschiedene Ordnungen und Grenzen beziehen – neben den nationalen auch auf die europäischen und globalen Ordnungssysteme, und neben den politisch-territorialen auch auf rechtliche, wirtschaftliche und kulturelle Grenzen – stellen wir die Frage, in welcher Beziehung diese verschiedenen Ordnungen und ihre Grenzen zueinander stehen. Wir können z.B. fragen, inwieweit an Grenzen verschiedene Ordnungen zusammentreffen, die in ein – hierarchisches oder auch anders geartetes – Verhältnis zueinander gebracht werden. Beispielsweise mag es relevant sein, ob eine politisch-territoriale Grenze mehrfach ordnungsdifferenzierend kodiert ist, indem sie nicht nur das nationalstaatliche Territorium definiert, sondern auch eine EU-Außengrenze darstellt. Um neue Perspektiven auf die Wechselwirkung zwischen Ordnungs- und Grenzaushandlungen einzunehmen, analysieren die am Center situierten interdisziplinären Forschungen außerdem die situative Kollision normativer Ansprüche wie auch die Frage der Hierarchisierung normativer Ordnungen. Im Bereich der Arbeitsforschung fragen wir nach z.B. nach der Ausbildung von ordnungsschaffenden Grenzen und grenzbildenden Ordnungen von privatwirtschaftlichen Unternehmen und anderen Organisationen der Erwerbsarbeit in „Mehrebenen“- oder rechtspluralistischen Systemen, in denen privates, staatliches, kirchliches und/oder internationales und supranationales/europäisches Recht ineinander greift.
c) Die Liminalität von Grenzen und die Neuschöpfung von Ordnungen
Drittens interessiert uns die Liminalität von Grenzen. Da Grenzen von verschiedenen Akteur:innen und Institutionen hergestellt werden, fällt auf, dass diese nicht immer eindeutig sind. Widersprüche und Konflikte können entstehen, wenn Ordnungen sich überlappen oder wenn Grenzen nicht eindeutig sind – wenn z.B. die politisch-territoriale Grenze nicht (eindeutig) mit einer Sprachgrenze zusammenfällt oder wenn globalisierte Wirtschaftsbeziehungen und transnationale soziale Verflechtungen nationalen Rechten und Sozialordnungen entgegenstehen. Aus der Überlappung von Ordnungssystemen können – zum Teil unintendiert – Grenzräume („borderlands“) oder auch Zwischenräume bzw. liminale Räume hervorgehen. Sie sind ambivalent: einerseits können sie Unsicherheiten, Entrechtung und Prekarisierung hervorrufen. Andererseits sind sie produktive Möglichkeitsräume, aus denen neue Ordnungen – oder auch „dritte Ordnungen“, „hybride Ordnungen“ – hervorgehen können. Diese Prozesse des Neuordnens, der Neuschöpfung von Ordnungen können anhand einer Grenzperspektive analysiert werden. Da neue Ordnungen, die sich in liminalen Grenzzonen herausbilden, auch für die sogenannten „Zentren“ relevant werden können, ermöglicht es der Blick auf diese Zonen, Entwicklungen von allgemeiner Bedeutung zu antizipieren.