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Königsberger Hartungsche Zeitung, Königsberg, 9. Oktober 1919

Transkription


 

Nr. 474. Abendausgabe. Erstes Blatt.

Königsberger Hartungsche Zeitung

Baltenland und Westrussland - Mitau Regierungssitz - Goltz an Burt — Russisch-lettische Kämpfe — Die Ukrainegegen Denikin - Vom Mordanschlag gegen Haase - Prämienanleihe - Ende des Königsberger Eska-Ausstandes; im übrigen Streikfortdauer

Der Wirrwarr im Baltikum

Die westrussische Regierung von Morgan finanziert im Kampfe gegen Letten und Esten.

Die Balkanisierung der Randstaaten schreitet immer weiter vor. Wenn die Enthüllungen der "Freiheit" zutreffen, ist die neue Westrussische Regierung von Amerika finanziert, da das Bankhaus Morgan schwerlich eine Transaktion auf eigenes Risiko unternehmen würde, die - wie ein Darlehn von 300 Millionen Mark an die Vertreter einer bisher von niemandem anerkannten Regierung - jede Sicherheit vermissen lässt. Ganz aus der Luft gegriffen aber dürfte die Mitteilung nicht sein, da bei den deutschen Truppen in Kurland schon früher bestimmt versichert wurde, dass die Finanzierung der Bermondtschen Aktion durch die Amerikaner sichergestellt sei. Hat Amerika sich jedoch solcher Gestalt für Bermondt festgelegt, dann wird die Haltung der Entente im Baltikum immer widerspruchsvoller. Selbst wenn man dies Vorgehen gegen Deutschland wegen der Haltung der deutschen Truppen in Kurland und Litauen als einen feinberechneten Schachzug ausehen wollte, der Deutschland in Gegensatz zu den Randstaaten und Russland bringen muss, da die deutschen Truppen als Eindringlinge und lästige Gewalthaber den Randstaaten gegenüber und als Feinde gegenüber der Sowjetregierung dargestellt werden, bleibt es doch rätselhaft, wie man der westrussischen Regierung die Entziehung der deutschen Unterstützung, über die sich der Präsident des Zentralrats und Oberst Awaloff-Bermondt eben noch so anerkennend aussprechen, motivieren wollen, Noch unverständlicher aber wäre die amerikanische Unterstützung Westrusslands, wenn man sie der englischen Unterstützung des lettisch-estnischen Angriffs auf die russische Demarkationslinie gegenüberstellt, den der amtliche Bericht derrussischen Westarmee bestätigt. Es sind zwei Dinge möglich: Die Entente spielt ein falsches Spiel gegen die Randstaaten oder Russland und sucht nur einen Grund zur Einmischung, oder Amerika tritt im Baltikum rivalisierend gegen England auf den Plan.

Mag dem nun sein, wie es wolle. Feststehende Tatsache ist zunächst, dass das Freikorps Bermondt sich in dem Zentralrat eine Regierungsorganisation geschaffen hat, die in Westrussland Fuß fassen will. Die Regierung ist nicht ungeschickt gewählt, da sie alle Elemente zusammenfasst, die mit den bestehenden Zuständen im Lande nicht zufrieden sind: Letten, Balten, Russen, MilitärparteiBauernpartei, sogar ein früheres Mitglied der Regierung Ulmanis. Das Programm der Westrussischen Regierung ist nach nicht ganz klar. Bermondt vertritt augenscheinlich großrussische Ideen, darauf lässt zum wenigsten sein Aufruf schließen, der als sein Ziel bezeichnet, Ruhe und Ordnung inRussland wiederherstellen, auf der andern Seite jedoch wird als eine Aufgabe des lettischen Komitees die Wahl einer lettischen Nationalversammlung bezeichnet. Es scheint also, wenn die Randstaaten nach den Plänen derWestrussischen Regierung Russland angegliedert werden sollten, den Randstaaten weitgehende Autonomie zugebilligt zu werden.

Für Deutschland gibt die Bildung der Westrussischen Regierung keinen Anlass, gegen sie Stellung zu nehmen. Wir haben vor der Hand damit zu rechnen, dass sie Deutschland wohl größere Sympathien entgegenbringt als die derzeitige lettische und estnische Regierung. Immerhin wird man die Klärung der Lage abwarten können; um so mehr, als uns durch den Friedensvertrag eine tätige Anteilnahme an der Gestaltung im Baltikum verwehrt ist und wir auch vorher schon es abgelehnt haben, uns in die inneren Angelegenheiten der baltischen Randstaaten einzumischen. Für uns kann heute ein Wort, das der lettische Rechtsanwalt Alberts, der Verwalter des Landwirtschaftsressortsin der westrussischen Regierung aussprach, in umgekehrtem Sinne gelten. Er meinte seinerzeit, dass die Letten mit Deutschland gehen würden, wenn Deutschland seine weltpolitische Stellung wahren könne. Deutschland wird mitRussland und den Randstaaten immer gern zusammengehen, wenn sie ihre staatsrechtliche Festigung erlangen.

Dy.

Die westrussische Regierung

WTB. Mitau8. Oktober. Der neue Zentralrat für Westrussland hat sich gestern in Mitau konstituiert und ist in Funktion getreten. Zur Entente steht er in keinerlei Gegensatz. Seine Hauptaufgabe wird darin bestehen, das jetzt von den Truppen des Obersten Awallow-Bermondt besetzte kurländische Gebiet zu einer Basis auszugestalten, von der aus Russland militärisch und politisch vom Joche des Bolschewismus befreit werden soll.

Der Oberkommandierende der russischen Westarmee verkörpert zurzeit die höchste Gewalt im Lande. Der Zentralrat handelt in seinem Auftrage. Hinsichtlich der Verwaltung des vorerst besetzten Gebietes besteht die feste Absicht, der Bevölkerung das Recht der lokalen Selbstverwaltung zu geben. Zu diesem Behufe hat sich in Kurland ein lettländisches Komitee gebildet, das dem Zentralrat untersteht, und zu zwei Dritteln aus Letten, zu einem Drittel aus Deutschbalten besteht. Die Organisation der Gemeindeordnung, die steuerrechtlich den Großgrundbesitz mit dem Kleingrundbesitz gleichstellt, wird eine der Hauptaufgaben des provisorischen lettländischen Komitees sein. Sodann wird sich das Komitee mit der Organisation und Durchführung der Wahlen zur lettländischen Nationalversammlung befassen, die eine Woche nach ihrer Wahl zusammentritt und ein neues lettländisches Kabinett bildet. Das lettländische Komitee ist somit ein Provisorium, solange keine aus Wahlen hervorgegangene Nationalversammlung besteht, die aus ihrer Mitte ein Kabinett bildet. Das lettländische Gebiet, das nunmehr unter russischen Schutz gestellt ist, seit die deutsche Okkupationsmacht aufgehört hat, wird somit auf breitester Grundlage im Rahmen der Selbstbestimmung der örtlichen Bevölkerung verwaltet werden. Der Zentralrat für Westrussland, dem das lettländische Komitee, das sich heute gebildet hat, unterstellt ist, setzt sich folgendermaßen zusammen: Als Vorsitzender ist Fürst Wolkowski in Aussicht genommen, der im alten Russland als Mitglied der OktobristenparteiVizepräsident der Reichsduma war. Als provisorischer Vorsitzender fungiert Senator Graf Konstantin von der Bahlen, der eine Laufbahn als Bauernkommissar und Gouverneur von Wilna hinter sich hat. Ihm ist die Führung der inneren und äußeren Geschäfte des Zentralrates übertragen. Die militärischen Angelegenheiten verwaltet Generalmajor Tschernilowski-Sokol. Der General kommandierte während des Krieges eine russische Artillerie-Division und stellte nach dem Siege des Bolschewismus in Russland in der Ukraine unter dem Hetman Skoropadski ein Artillerie-Regiment gegen die Bolschewisten auf. Leiter des Gerichts- und Gefängniswesens ist Senator und Mitglied desReichsrates Rimski-Korsakow, der als Gouverneur von Jaroslaw Gelegenheit gefunden hat, sich administrativ zu betätigen. Dem Verkehrswesen steht der frühere Chef der Libauer-Romnier Eisenbahn, Ingenieur Iljin, vor. Als Geschäftsleiter des Zentralrates ist der wirkliche Staatsrat Simin tätig, der mit den örtlichen Verhältnissen gut vertraut ist und in Russland als höherer Administrativ-Beamter tätig gewesen ist. Dem Ressort für Landwirtschaft und Domänen steht der lettische Rechtsanwalt Arrais Alberts vor. Wirklicher Staatsrat Engelhardt hat das Finanzressort übernommen. Der Zentralrat tagt zurzeit ebenso wie das lettländische Komitee in Mitau.

Amerikanische Finanzierung der westrussischen Regierung

(Eigne Drahtung der "Hartungschen Zeitung")

nn. Berlin9. Oktober. Die Ungeduld der Unabhängigen, ihre Enthüllungen über die russische Politik der Regierung recht schnell der Welt zu übergeben, verführt sie heute dazu, die Wirkung der Rede ihres Vertreters in derNationalversammlung dadurch zu verzetteln, dass sie in der "Freiheit" Einzelheiten verfrüht veröffentlichen.

Das unabhängige Organ teilt heute morgen einen Vertrag mit, der zwischen einem Berliner Vertreter des Bankhauses Morgan und den in Berlin anwesenden sieben Mitgliedern der westrussischen Regierung abgeschlossen worden ist. Nach diesem Vertrag gibt das Bankhaus Morgan der westrussischen Regierung ein Darlehen in der Höhe von 300 Millionen Mark zum Zinssatz von 5 Prozent auf 10 Jahre. Als Sicherheit für das Darlehen wird das gesamte mobile und immobile Eigentum des der russischen Regierung jetzt und in aller Zukunft unterstehenden Gebietes verpfändet. Präsident dieser westrussischen Regierung ist der russische General Biskupski. Nach Mitteilungen von anderer Seite ist der Vertrag in Berlin am 26. September 1919 abgeschlossen worden. Das Original trägt am Kopf den handschriftlichen Vermerk: Hauptexemplar für das Haus J. P. Morgan. Der Vertrag ist mit Schreibmaschine in deutscher Sprache geschrieben und ist zum Schluss von sieben Personen unterschrieben, die in der Einleitung als Minister bezeichnet werden, und von einem Vertreter des Bankhauses Morgan. Der Vertrag wurde nicht bei einem Notar abgeschlossen. Das in dem Vertrag gewährte Darlehen von 300 Millionen Mark sollte einen militärischen Feldzug im Osten finanzieren. Der angebliche Vertreter des Bankhauses scheint nur ein Strohmann gewesen zu sein.

Das Korps Bermondt im Kampfe gegen lettische Truppen

WTB. Mitau8. Oktober. Am 6. Oktober richtete der Oberbefehlshaber der russischen WestarmeeOberst Awaloff-Bermondt, folgendes Telegramm an den Ministerpräsidenten der provisorischen lettländischen Regierung: Nachdem ich es in diesem Augenblick für zeitgemäß erachtet habe, an die Bolschewikenfront zu gehen, bitte ich Eure Exzellenz dafür zu sorgen, dass solche Bedingungen geschaffen werden, die es mir ermöglichen, meine Truppen ohne Aufenthalt in den Kampf zu führen gegen die Horden der roten Armee des Sowjetrussland, die sich in den Grenzen Lettlands befinden und alle diesem benachbarten zivilisierten Völker mit Vernichtung und Verderden bedrohen. Über die Maßnahmen, die die durch Sie repräsentierte Regierung zu ergreifen gedenkt, den unbehinderten Durchmarsch der unter meinem Befehl stehenden Truppen sicher zu stellen, bitte ich mich umgehend zu benachrichtigen.

Awaloff.

Oberkommandierender der russischen freiwilligen Westarmee.

Eine Antwort ist hierauf nicht erfolgt. Stattdessen griffen die Letten am 8. Oktober früh die in der Demarkationslinie eingesetzten Truppen an.

Amtlicher Bericht der russischen Westarmee

WTB. Mitau8. Oktober. Infolge des Überschreitens der Demarkationslinie durch die lettischen Truppen und verschiedener Überfälle auf meine Abteilungen gab ich den Befehl zum Gegenangriff, der sich gegenwärtig erfolgreich entwickelt. Meine Truppen befinden sich nach erfolgreichem Vorrücken in der Linie Edingburg-Thüringsdorf-Blawnek und stehen noch etwa sechs Kilometer vor den Toren Rigas.

Awaloff-Bermondt, Oberst und Armeeführer.

Am frühen Morgen des 8. Oktobers wurden die russischen Vorposten bei Olai angegriffen und zurückgedrückt. Gleichzeitig gingen Meldungen über die dauernden estnischen Truppenausladungen in und um Riga ein. Da der russische Führer vom Gedanken des Kampfes gegen den Bolschewismus beseelt ist und seine Hoffungen auf diesen Kampf durch den bevorstehenden Angriff der Esten und Letten vereitelt sah, entschloss er sich, den Gegner hinter und gegen die Düna zurückzuwerfen und setzte daher alle seine Kräfte zum Gegenangriff ein. In teilweise schwerem Kampf, durch das versumpfte Gelände überall behindert, gingen die Truppen vor und warfen den zähe sich wehrenden Gegner bis in die Linie Blawnak an der Düna bis Ostende des Babitzsees zurück.

WTB. Mitau8. Oktober. Teile der im Baltikum aufgestellten russischen Truppen, deren einziges Ziel es ist, gegen den russischen Bolschewismus zu kämpfen und die konstituierende Nationalversammlung herbeizuführen, sind am 8. Oktober von lettischen Truppen angegriffen worden und haben einen Gegenstoß unternommen. Diese Maßnahme ist lediglich erfolgt, um eine sichere Basis zum weiteren Vormarsch gegen die Bolschewiken nach Russlandherzustellen. Der russische Vormarsch richtet sich keineswegs gegen den lettländischen Staat als solchen. Es ist wiederholt von den Russen hervorgehoben worden, dass sie von Lettland lediglich den freien Durchzug und die Sicherung des Nachschubes verlangten. Ein Vorgehen gegen den lettländischen Staat liegt nicht in ihrer Absicht, wie dieses wiederholt durch Aufrufe an das lettische Volk sowie bei den Verhandlungen mit den Vertretern der Ententeund der lettländischen Regierung hervorgehoben worden ist. Als Antwort auf dieses Verlangen begann in der lettischen Presse ein Schmach- und Schmutzfeldzug gegen die Russen, während der Volksrat einen Aufruf an das Volk erließ, indem die freiwillige Westarmee und die Bolschewiken in einem Atemzuge genannt und beide als gleich gefährlich für Lettland bezeichnet wurden. Die Bitte des russischen Oberbefehlshabers um Zurücknahme der lettischen Truppen hinter die Düna, um sich eine sichere Operationsbasis zur Bekämpfung des Bolschewismus zu schaffen, ist von Lettland unberücksichtigt gelassen. Statt dessen wurden dauernd lettische und estnische Truppen nach Olai,Riga und der Gegend östlich Riga anbefördert. Ein umfassender lettisch-estnischer Angriff auf die russischen Truppen stand für die nächste Zeit zu erwarten. Wahrscheinlich wollten die Letten und Esten sich dadurch den Dank der Bolschewisten verdienen. Dabei wurde noch auf der Besprechung am 26. August 1919 in Riga unter Vorsitz des englischen Generals March, an der sämtliche Vertreter der Randstaaten teilnahmen, die gemeinsame Offensive gegen die Bolschewisten beschlossen, wobei der russischen freiwilligen Westarmee die Aufgabe zugedacht war, von Dünaburg in Richtung Welikoje-Luki vorzugehen. Jetzt aber weigern sich der lettische sowohl wie der estnische Staat, die russischen Truppentransporte an die Front und die weitere Formierung der Russen in diesen Gebieten zuzulassen. In dieser Lage sah sich der russische Oberbefehlshaber Oberst Awaloff-Bermondt gezwungen, die bereits formierten Truppenteile an der zwischen Lettland und der deutschen Okkupationsmacht auf Wunsch der Entente vereinbarten Demarkationslinie einzusetzen. Lettische Truppen haben wiederholt Überfälle auf die Russen unternommen, so dass sich der Oberbefehlshaber zur Ergreifung energischer Maßnahmen gezwungen sah. Da über die Absichten der lettischen Regierung keinerlei Zweifel bestehen können, hat sich am 8. Oktober in Mitau beim Oberbefehlshaber ein Rat zur Verwaltung der von den russischen Truppen besetzten Gebiete Westrusslands gebildet. Den Wünschen des lettischen Volkes ist durch ein besonderes lettisches Komitee, das zu zwei Drittel aus Letten und zu einem Drittel aus Deutsch-Balten besteht, Recnung getragen.

Durchbruch der Bolschewistenfront bel Liewenhof

FEB. Mitau7. Oktober. (Sonderdepesche.) Hier sind Delegierte vom dänischen Roten Kreuz eingetroffen, die, über Moskau kommend, die Front bei Liewenhof an der Düna passiert haben. Sie berichten, dass von der Heerführung bei der bolschewistischen Roten Armee die Vorgänge in Kurland genau verfolgt werden. Man kennt dort bis ins einzelne die Zahl der noch in Kurland stehenden deutschen Truppen, der russischen Westarmee und der lettischen Formationen. Das bolschewistische Kommando erwartet mit Spannung, ob Graf von der Golz, dessen Name noch aus der Zeit der Befreiung Finnlands von den Roten in der bolschewistischen Armee bekannt und gefürchtet ist,Kurland mit den Freikorps verlassen muss. Ob trotz der Friedensverhandlungen schon in Kürze wieder ein bolschewistischer Angriff zu erwarten ist, wussten die Delegierten nicht mit Sicherheit zu sagen.

FEB. Mitau7. Oktober. (Sonderdepesche.) An der kurländischen Bolschewisten-Front ist es zu neuen Kämpfen gekommen. Die baltische Landeswehr hat an der ihr zweckmäßigen Frontstelle die bolschewistische Front durchbrochen, hat nach schweren Kämpfen Liewenhof, den Hauptstützpunkt der Bolschewisten an der Düna, diesseits Dünaburgs, genommen, und ist dem fliehenden Feinde folgend, darüber hinaus vorgestoßen. Auch Zargrad an der Düna wurde besetzt, Geschütze und Kriegsgerät erbeutet, zahlreiche Gefangene gemacht, darunter mehrere Offiziere vom Korpsstab. Die Bolschewisten führen Verstärkungen heran, um an dem Flüßchen Dubena einen letzten Widerstand zu versuchen. Wird der Riegel an der Dubena gebrochen, so ist der endgültige Fall Dünaburgs sichergestellt.

Graf v. d. Goltz an General Burt über die Räumung Kurlands

WTB. Mitau9. Oktober. In der Frage der Räumung des Baltikums richtete Graf von der Goltz am 24. September ein Schreiben an General Burt, Chef der verbündeten Militärmission in Riga, in dem es heißt, dass die Sicherung an der Demarkationslinie nördlich Mitau den russischen Truppen übergeben würde, um den Abtransport der deutschen Verbände zu ermöglichen.

Die lettischen Truppen würden aber an der gegenüberliegenden Demarkationslinie fortlaufend verstärkt, sodass mit einem Angriff auf die deutschen Truppen gerechnet werden müsse. Gleichzeitig werde der Transport starker estnischer Kräfte über Stredmannshof gemeldet. Hierdurch könne der deutsche Abtransport erneut verzögert wenden. Ähnliche Verhältnisse hätten die Engländer bei der Räumung von Archangelsk gezwungen, zunächst noch neue Freiwilligenverbände dorthin zu bringen, um die Loslösung der bedrohten Besatzung vorzubereiten. Sollte sich daher die Bedrohung der deutschen Truppen bei Mitau weiter verstärken, so könnte auch hier eine ähnliche Maßnahme wie in Archangelsk erforderlich werden.

Graf v. d. Goltz bittet, dafür zu wirken, dass die estnischen und lettländischen Truppen hinter die von ihnen bezeichnete Linie zurückgezogen würden, damit er die Räumung ausführen kann. Da General Burt auf dieses Schreiben nicht sofort antwortete, wie es der Bedeutung der deutscherseits angeregten Frage entsprochen hätte, wies Graf v. d. Goltz am 4. Oktober in einem zweiten Schreiben an Burt erneut darauf hin, dass immer mehr lettische Truppen bei Olai und Riga, an der Demarkationslinie und über diese hinaus angesammelt würden, die Letten starke Patrouillenvorstöße machten und mit Artillerie schössen. Er habe Ende September die Abtransporte wieder aufgenommen und betonte nochmals, daß die Räumung auf die Dauer undurchführbar sei, wenn nicht die estnischen Truppen und die Masse der lettischen Truppen aus der bedrohlichen Nähe der Olaifront zurückgezogen würden. Graf v. d. Goltzforderte daher, seinem Ersuchen vom 24. September Folge zu geben, andernfalls sei aller Welt klar, dass Burt an einer friedlichen Räumung Lettlands nichts gelegen sei.

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Der Zug der Angerburger Jäger

Tilsit8. Oktober. (Privattelegramm.) Zu der Flucht der Angerburger Jäger über die Grenze bei Laugszargen erfährt die "Tilsiter Zeitung", dass im ganzen elf Jäger mit der Bagage und einem Maschinengewehr abgefasst werden konnten. Etwa 120 Mann mit vier Maschinengewehren sind über die Grenze geflüchtet.

Die Wirkung des Aufrufs an die deutschen Truppen

(Eigne Drahtung der "Hartungschen Zeitung".)

B. D. Berlin9. Oktober. Die "B. Z. am Mittag" meldet aus Mitau: Soweit die Lage sich bis jetzt übersehen lässt, hat der Aufruf der Reichsregierung eine zweifache Wirkung gehabt. Ein Teil der Truppen hat sich unter dem Einfluss des Aufrufs in die durch den Zwang der Entente geschaffene Lage gefunden und den Rückmarsch angetreten, während sich bei einem anderen Teil die Stimmung erheblich verschlechtert hat. Die Strafandrohung für Deserteure und Übergänger hatte gerade die entgegengesetzte Wirkung, als die Regierung beabsichtigte. Man erregt sich darüber, dass dieselbe Regierung, die im November Deserteure straffrei ließ, jetzt gegen Männer, die monatelang Deutschland gegen den Bolschewismus verteidigt haben, in schroffster Form Drohungen ausspricht. Die Aufregung muss ernste Besorgnis erwecken.

nn. Berlin8 Oktober. Zur Räumung des Baltikums und den Gefahren, die sich aus der Gespaltenheit ergeben, erfährt das "B. T." von gut unterrichteter Seite: Die Ankündigung, dass der größere Teil der im Baltikum stehenden Formationen unter dem General Eberhard sich zur Rückkehr entschlossen und den Rückmarsch bereits angetreten habe, scheint zuzutreffen. Bei dem Rest der Mannschaften, die allen politischen Erwägungen zum Trotz im Baltikumbleiben wollen, ist unter Major Bischoff eine Art Nachrichtenstelle eingerichtet worden, die sich einmal bemüht, die Truppen in ihren Absichten zu unterstützen und zum anderen die deutsche und die ausländische Presse mit Nachrichten zu versorgen, die im Sinne der dortigen Kommandos liegen. Die Rückführung der Truppen untersteht dem General von Eberhard. Die Schwierigkeiten des Rückmarsches liegen vor allem darin, dass die Strecke Mitau-Schaulen, auf der die Einwaggonierung der Truppen erfolgen soll, etwa 80 Kilometer beträgt. Diese Strecke muss, da die Feindseligkeit der Esten und Letten immer deutlicher zum Ausdruck kommt, stark gesichert werden. Es wird also nötig sein, den Rückmarsch in breiter Front durchzuführen, um Umgehungen und Abschneidungen kleinerer Trupps durch die Letten zu verhindern. Die technischen Schwierigkeiten des Transports, die in dem Zustande der Marschwege und späterhin der Gestaltung der Transportmittel liegen, sind, wie uns mitgeteilt wird, nicht von entscheidendem Einfluss auf die Räumungsmöglichkeit. Mit einer Beeinflussung des Tempos in ungünstigem Sinne muss allerdings bei Verschlechterung der Witterung gerechnet werden.

Reichswehrminister Noske zur baltischen Frage

Gemeingefährliche Truppen-Aufwiegelung.

Die Ausführungen des Reichswehrministers Noske in der gestrigen Sitzung der Deutschen Nationalversammlung über die baltische Frage und die Widersetzlichkeit der dortigen Truppen, sowie die gemeingefährliche deutschnationale Aufwiegelungsarbeit (vergl. Morgennummer) lauteten ausführlicher wie folgt:

Reichswehrminister Noske: Es ist politisch nicht klug, wie Herr Stresemann die baltische Frage behandelt. Dass die Truppen im Baltikum nichts mehr zu suchen haben, liegt an dem Friedensvertrag. Deshalb darf die Presse nicht mehr auf die Truppen dahin einwirken, als seien sie in einer Rechtslage, wonach sie im Baltikum bleiben könnten. Die zu überwindenden Schwierigkeiten sind außerordentlich groß. Mit der wüsten Schimpferei auf die Truppen, die nicht zurück wollen, ist es allerdings nicht getan. Ihre Motive sind zu respektieren; denn die Leute sehen in der Heimat nur Arbeitslosigkeit und Terror. Sie fühlen sich in ihren Erwartungen betrogen. Als Not am Mann war, hatte ihnen die lettische Regierung die Einbürgerung versprochen und die Ansiedlung in Aussicht gestellt. Aber die Regierung muss jetzt alles daran setzen, um Deutschland vor schweren Konflikten mit den alliierten Regierungen zu bewahren. Offene Unbotmäßigkeit und Ungehorsam sollen geahndet werden, wie es sich gehört. Der Aufruf des Majors Bischoff in der "Täglichen Rundschau" enthält ein Maß von Insubordination und Auflehnung gegen die Interessen des Reichs, dass mit allem Nachdruck schleunigst eingegriffen werden wird. Ich habe sofort telegraphiert, dass in jedem Falle gegen Gehorsamsverweigerung und unbotmäßige Führer mit aller Schärfe vorzugehen und eine kriegsgerichtliche Untersuchung gegen Major Bischoff sofort einzuleiten ist.

Ich möchte mit allem Nachdruck und tiefstem Ernst an jenen Teil der Presse die Mahnung richten, nicht unsere Arbeit in dieser gefährlichen ernsten Situation noch weiter zu erschweren. (Sehr richtig! links.) Ein Berliner Blatt schrieb in Riesenlettern über die ganze erste Seite: "General von der Goltz, russischer Überläufer", und darunter stand ganz klein: "Eine Bestätigung der Nachricht an irgend einer Stelle liegt nicht vor. (Hört! Hört! links), es ist auch die äußerste Vorsicht gegenüber der Meldung geboten." Es ist außerordentlich gemeingefährlich, dass dauernd von manchen Stellen auf die Truppen eingewirkt und sie in ihrer Widersetzlichkeit bestärkt werden. Ich kann der deutschnationalen Presse nicht den Vorwurf ersparen, dass sie ein unverantwortliches Spiel mit den Interessen des deutschen Volkes und Landes treibt. (Sehr richtig! links). Einmal brachte ein Blatt die große Überschrift: "Verrat an den Truppen". Das sah also aus wie Verrat der Regierung an den Truppen. Unser Vorgehen gegen die Soldatenplünderungen nannte das Blatt schamlos und unerhört. Als die Regierung die Note über die Räumung des Baltikumsbeantwortete, brachte das Blatt am 4. Oktober die Überschrift: "Verrat am deutschen Baltenland". Das bedeutete einen neuen Versuch, bei den widersetzlichen Truppen den Eindruck hervorzurufen, als ständen sie nicht auf fremdem, sondern deutschem Boden und würden von der Regierung verraten.Graf Posadowsky kann die Verantwortung für diese Presse von seiner Partei nicht abwimmeln. Herr v. Gräfe hat sich schützend vor ein solches Blatt gestellt und mir einen unliebenswürdigen Brief geschrieben, wie ich mich unterstehen könnte, gegen das Blatt vorzugehen. Wir würden gewissenlos handeln, wenn wir diesen Ausschreitungen nicht entgegenträten.

Wenn Graf Posadowsky versicherte, dass seine Partei sachlich für ihre politischen Ziele wirke, so kann ich das nicht als richtig anerkennen. Ganz systematisch wird in den letzten Wochen von der deutschkonservativen Partei und ihrer Presse das leidliche Vertrauensverhältnis zwischen mir und den Offizieren untergraben und unterwühlt. Wir tanzen in dem Maße auf einen Vulkan, dass es das Letzte sein sollte, uns die Arbeit noch schwerer zu machen. Das deutsche Offizierskorps hat immer in seiner großen Mehrzahl aus armen Leuten bestanden, die ihre Ehre darin setzten, ihrem Vaterlande zu dienen. (Große Unruhe. Zurufe.) Von nichts anderem habe ich gesprochen. (Widerspruch rechts.) Es kennzeichnet die Art, wie der politische Kampf auch in dieser Situation von Ihnen (nach rechts) geführt wird, dass Sie aus diesen einwandfreien Worten Kapital zu schlagen suchen. (Zuruf des Abg. von Gräfe: "Ich danke für die einwandfreien Worte".) Wie die Propaganda getrieben wird, den militärischen Apparat zu zermürben, der mit Mühe wieder aufgebaut worden ist, ergibt sich aus einer Broschüre, in der den Soldaten vorgelogen wird, die Regierung tue nichts für ihre Zukunft, die Regierung stelle sich auf den Standpunkt: Sehe jeder, was er treibe, sehe jeder, wo er bleibe, und wer steht, dass er nicht falle. Weiter wird den Soldaten darin angesonnen, dass sie ihre eidlichen Verpflichtungen nicht halten sollen. Gedruckt ist dieses Pamphlet in der Druckerei der "Deutschen Tageszeitung", und zwar im Auftrag des Vorstandes der Deutschnationalen Partei. (Zuruf: "Landesverräter!" Große Unruhe.) Selbstverständlich habe ich gegen die Schuldigen Strafantrag gestellt dagegen, dass in so unerhörter Weise der Versuch gemacht wird, die Soldaten zu Treulosigkeit und UnbotmäßigKeit zu verführen.

Als die 10 000 Kieler Matrosen wie eine Blutwelle über Deutschland sich ergossen, so verdanken Sie es, wenn nicht ein unglaubliches Verderben über das Land gekommen ist, dem Umstande, dass ich Stunde für Stunde auf sie eingewirkt habe. Deutschland muss zum Unterliegen kommen, wenn nicht in allen Schichten des Volkes die Erkenntnis Platz greift, dass es nicht angeht, immer noch mit schmutzigen Fingern in den Wunden herumzuwühlen. So lange wir die Geschäfte führen, sind wir bereit, - das sage ich den Herren von rechts wie von links - unseren Worten auch Taten folgen zu lassen. (Beifall bei der großen Mehrheit.)

Kommentare zu Noskes Rede

Berlin9. OktoberNoskes gestrige Rede war, wie der "Vorwärts" schreibt, eine kräftige Unterstreichung des Wortes von Scheidemann: Der Feind steht rechts. Sie war um so kräftiger, als sie mit der Erklärung schloss, die Regierung werde es nicht bei Worten bewenden lassen, sondern ihre Taten danach einrichten.

In der "Kreuzzeitung" wird das Auftreten Noskes gegen die deutschnationale Presse als "unerhört" bezeichnet. Das Blatt sagt: Die unter der neuen freiheitlichen Republik fortdauernde Knebelung der rechtsstehenden Presse ist ein schwerer Bruch der Verfassung, die der Reichspräsident feierlich beschworen hat.

In der "Deutschen Allg. Ztg." heißt es: Aus dem Programm der Mitarbeit, welches der Vorsitzende der deutsch-nationalen Fraktion der preußischen LandesversammlungHergt entwickelte, schien hervorzugehen, dass die Partei gewillt sei, jede negative Opposition zu verlassen, um, natürlich unter gewissen Voraussetzungen, die Regierung in den Dingen mit zu stützen, die in der heutigen Lage des Staates für den Wiederaufbau wesentlich sind. Was in diesen Tagen der Landesverband Berlin der deutsch-nationalen Volkspartei beschloss, lag nicht im Sinne der Hergtschen Ausführungen. Niemand wird von der deutsch-nationalen Partei verlangen, dass sie sich innerlich mit der heutigen Zeit uneingeschränkt abfindet, aber man sollte doch meinen, dass abweichende Auffassungen zurückzutreten haben hinter der Forderung der Zeit, alles, was wir heute an Kräften in unserem Volke besitzen auf das eine Ziel des Wiederaufbaues unseres Volkes und Staates zu einen.

Die Ukraine mit Denikin im Kampf

Bern8 Oktober. Das ukrainische Pressebüro meldet aus Kamenez-Podolsk:

Alle Bemühungen der ukrainischen Regierung, den Kampf mit Denikin zu vermeiden, sind gescheitert. Eine ukrainische Truppe wurde von der russischen Freiwilligen Armee überfallen, worauf die ukrainische Regierung Denikin den Krieg erklärte. Das Vordringen der Truppe Denikins nach Westen ist aufgehalten. Es fanden heftige Kämpfe um Christinowka statt.

Die Kriegserklärung wurde von der ukrainischen Bevölkerung mit Begeisterung aufgenommen, denn es ist ein Krieg um die nationale und soziale Befreiung.

Auch hinter der Front Denikins brachen Bauernaufstände aus.

Tobolsk von Koltschak besetzt

WTB. London8. Oktober"Reuter" erfährt, dass nach einem Telegramm aus Moskau vom 5. Oktober die Truppen Koltschaks Tobolsk besetzten.

Haase über das Revolverattentat

Der Täter geistig minderwertig.

B. D. Berlin9. OktoberAbgeordneter Haase gab im Hedwig-Krankenhause, nachdem er verbunden worden war, folgende Darstellung des Attentates:

"Ich ging in Begleitung meiner Frau zum Reichstag und wurde durch einen Schuss, der hinter mir fiel, plötzlich aufgeschreckt. Als ich mich umwandte, sah ich in geringer Entfernung einen Mann, der erneut auf mich anlegte. Ob der erste Schuss mich schon getroffen hat, kann ich nicht sagen. Zunächst bemerkte ich jedenfalls von einer Verwundung nichts. Um ein weniger gutes Ziel zu bieten, lief ich in gebückter Haltung nach der Ecke des Reichstagsgebäudes. Der Attentäter feuerte hintereinander 5 bis 6 Schüsse auf mich ab. Ich war vor allem bestrebt, meine Frau in einer der Nischen des Reichstagsgebäudes vor den Kugeln des Mannes in Sicherheit zu bringen und mich dann mit ihr, während noch weitere Schüsse fielen, in der Richtung auf das Reichstagsportal in der Sommerstraße zu flüchten. Unterwegs brach ich jedoch zusammen. Obwohl mehrere Leute den Vorgang aus nicht allzuweiter Entfernung beobachteten, gelang es dem Attentäter doch, ungehindert sein Feuer auf mich zu richten. Als ich mich nach dem ersten Schuss umdrehte, bemerkte ich deutlich, wie er nach meinem Kopfe zielte. Ich fühlte, dass er dadurch, dass ich mich bückte, das sichere Ziel verlor und unsicher schoss, und glaube, dass ich es nur meiner schnellen Vorsichtsmaßnahme verdanke, wenn ich vor schweren Verletzungen bewahrt geblieben bin."

Die Motive, die den Attentäter geleitet haben, sind jetzt wohl vollkommen geklärt. Es handelt sich um die Tat eines geistig minderwertigen Menschen gegen eine ihm missliebige Persönlichkeit, nicht aber um ein politisches Attentat. Selbst die "Freiheit" muss heute zugeben: "Es hat ziemliche Wahrscheinlichkeit, dass der Mann geistig minderwertig ist, und wir, die wir uns stets gegen die politische Ausschlachtung von Irrsinnstaten gewandt haben, sind die letzten, die diesen Mann irgendeiner Partei an die Rockschöße hängen wollen."

Neben diesen Sätzen bringt die Freiheit aber entsprechend ihrer Hetztendenz einen Aufruf des Zentralkomitees der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der wieder von der angeblichen Mörderzentrale der Militaristen fabelt und speziell zu dem Anschlag auf Haase sagt: "Diese Tat entspringt nach den offiziellen Angaben Motiven eines geistig nicht Normalen. Wie dem immer sei, sicher ist, dass die Tat nur in einer politischen Atmosphäre, in der die Revolutionäre als volgelfrei gelten und ihre Mörder frei ausgehen, möglich wurde."

Das Vernehmungsprotokoll bietet das typische Bild eines geistig gestörten Querulanten. Er benahm sich auf der Polizeiwache so merkwürdig, dass man ihn zur Überprüfung seines Geisteszustandes einer Irrenanstalt überweisen wird. Für seine Minderwertigkeit spricht auch ein bei ihm vorgefundenes Flugblatt, dessen Verfasser er nach seinen eigenen Angaben ist.

Haases Befinden gibt zu keinen Besorgnissen Anlass. Man hofft, dass er in wenigen Wochen wiederhergestellt sein wird. Unter der Überschrift "Ein unpolitisches Attentat", sagt der "Vorwärts": Die ungeheure Aufregung, die die Nachricht von dem Attentat auf Haase gestern in der Nationalversammlung hervorrief, legte sich erst, als bekannt wurde, dass die Verletzungen Haases unbedenklich seien und dass dem wahnwitzigen Anschlag kein politisches Motiv zugrunde lag. Die menschliche Teilnahme für das Opfer des Überfalls wurde hierdurch nicht vermindert, zumal Haase auch bei seinen politischen Gegnern Achtung und Sympathie genießt. Aber die Entpolitisierung dieses Zwischenfalls bedeutet zugleich eine Entgiftung und darum eine Erleichterung für alle, die das Volksleben auf die Bahn einer gewaltlosen inneren Entwicklung gelenkt zn sehen wünschen.

Näheres über den Attentäter Boß

WTB. Berlin9. Oktober. Von zuständiger Stelle wird uns mitgeteilt: Zur Kenntnis über die Person des Attentäters auf den Abgeordneten Haase mögen noch folgende Tatsachen angeführt werden: Vor genau einem Jahre wandte sichJohann Boß, wie seine Ehefrau in verschiedenen Briefen und Eingaben an das preußische Finanzministerium mit der Behauptung, dass bei der Ziehung der preußischen Klassenlotterie Unregelmäßigkeiten vorkämen. Den Eingaben und Briefen, die voller Beleidigungen waren, waren Flugblätter beigefügt, die die gleichen sind, die heute bei dem Attentäter gefunden wurden. Die Staatsanwaltschaft leitete auf Antrag des damaligen Finanzministers Hergt vom 21. Oktober 1918, erneuert vom jetzigen Finanzminister Dr. Südekum, am 19. Juli 1919, das Verfahren gegen die Eheleute Boß wegen Beleidigung und Erpressung ein. Infolge der Amnestie wurde das Strafverfahren wegen Beleidigung fallen gelassen, wogegen das Verfahren wegen Erpressung fortgeführt wird. Boß scheint also nicht nur ein leidenschaftlicher Gegner des unabhängigen Abgeordneten Haase, sondern auch der früheren und jetzigen Regierung zu sein, wie aus den vorgefundenen, schon oben erwähnten Flugblättern hervorgeht und aus seinen mehrfachen Erpressungsversuchen (er selbst gibt an, dass Haase gegen ihn einen Prozess wegen Erpressung geführt hätte), handelt es sich um einen gemeingefährlichen Menschen, dem wirklich politische Interessen fernliegen dürften.

Erzberger gegen Helfferich

WTB. Berlin8. Oktober. Wie die "Kreuzzeitung" erfährt, hat Staatssekretär Helfferich am 7. d. Mts. von der Staatsanwaltschaft eine Vorladung für den 10. d. Mts. in dem auf den Strafantrag des Reichsfinanzministers Erzbergereingeleiteten Ermittelungsverfahren erhalten.

Eine deutsche Sparprämienanleihe.

(Eigne Drahtung der "Hartungschen Zeitung".)

B. D. Berlin9. Oktober. Auf Grund des § 2 des Gesetzes über einen Anleihekredit für das Rechnungsjahr 1919, sowie die Ausgabe von Inhaberpapieren mit Prämien vom 22. August 1919 ist der Reichsminister der Finanzenermächtigt, mit Zustimmung des Zehnerausschusses der Nationalversammlung die zur Bestreitung außerordentlicher Ausgaben bewilligten Kredite auch durch Ausgabe von Inhaberpapieren mit Prämien flüssig zu machen. Ein vom Reichsfinanzminister dem Ausschuss gestern vorgelegter Plan für eine Sparprämienanleihe ist in der gestrigen Sitzung des Zehnerausschusses eingehend besprochen worden und hat gegen eine Stimme bei einer Stimmenthaltung Annahme gefunden.

Vom Berliner Metallarbeiterstreik

(Eigne Drahtung der "Hartungschen Zeitung".)

B. D. Berlin9. Oktober. In der gestrigen Versammlung der Funktionäre der Verwaltungsstelle Berlin des Deutschen Metallarbeiterverbandes gab der Bevollmächtigte der 15er Kommission Rusch den Bericht über die Streiklage. Er machte die Mitteilung, dass am Mittag ein längerer Brief des Reichsarbeitsministers eingelaufen sei. Es hätte keine Möglichkeit bestanden, die 15er Kommission zusammen zu berufen, damit sie Stellung zu diesem Briefe nehmen könne. Der Reichsarbeitsminister macht in dem Briefe einen Vermittelungsvorschlag, der Opfer von den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern fordert. Beide Parteien sollten in den einzelnen Berufsgruppen zusammentreten, um sie in die im Schiedsspruch vom 21. August festgesetzten Lohnklassen einzuordnen. Wenn keine Einigung erzielt würde, so solle ein im Einvernehmen beider Parteien vom Reichsarbeitsministerium benannter Sachverständiger entscheiden.

Auf Antrag eines Obmannes fand über den Brief des Reichsarbeitsministers keine Aussprache statt. Der 15er Kommission bleibt es überlassen, auf Grund des Vorschlages des Reichsarbeitsministers in Verhandlungen einzutreten .

Vor Eintritt in die Tagesordnung wurde anlässlich des Attentates auf Haase eine Resolution angenommen, die schärfsten Protest dagegen erhebt, dass die Regierung durch milde Bestrafung von Mördern, die hervorragende Führer des Proletariates getötet haben, die Gegenrevolution stärkt und neue Mörder heranzieht. (Die Regierung bestraft nicht; die Justizbehörden, die in jeder Beziehung unabhängig sind, verurteilen auf Grund der Beweis- und Tatbestandsaufnahmen.)

In der Siemensstadt ist gestern abend 6 Uhr von der Streikleitung und den Elektrizitätsarbeitern in Spandau der gesamte elektrische Strom abgeschnitten worden. Der Stadtteil liegt vollkommen im Dunkel. Kanalisation und Straßenbahn sind ebenfalls stillgelegt. Man erwartet die technische Hilfstruppe, damit diesen Zuständen ein Ende bereitet werden kann. Es ist auch wieder zu Ausschreitungen der Streikenden gekommen.

Die Mitgliederzahl der Betriebsräte

WZ. Der vor einiger Zeit veröffentlichte Entwurf sieht eine so große Anzahl von Betriebsratsmitgliedern in den einzelnen Betrieben vor, dass die zu gedeihlichem Fortgang des Betriebes unerläßliche Stetigkeit der Arbeit in Werkstätten und Büros gestört, unter Umständen unmöglich gemacht und damit der Bestand des Betriebes und Arbeitsgelegenheit der Arbeitnehmer gefährdet wird.

Diese und ähnliche Gründe sind es auch, die denReichsverband der deutschen Industrie und andere maßgebende Verbände veranlassten, einen diesbezüglichen Abänderungsvorschlag zu machen; nach diesem Vorschlag soll der Betriebsrat bestehen in Betrieben mit

Arbeitnehmern Mitgliedern

50 bis 100 aus 3 gegen 5 des Regierungsentwurfs

101 " 200 " 4 " 6 " "

201 " 400 " 5 " 7 bis 8 " "

401 " 600 " 6 " 9 " 10 " "

601 " 1000 " 7 " 11 " 14 " "

1001 " 2000 " 8 " 15 " 16 " "

2001 und mehr " 15 " 20 " " " bei 3501 Arbeitnehmern und mehr.

Anscheinend in der Erkenntnis, dass ihr Entwurf verbesserungsbedürftig ist, hat sich die Regierung entschlossen, den betreffenden Artikel dahingehend umzuändern, dass nunmehr in Betrieben von 100 bis unter 1000 Arbeitnehmern statt für je 100 für je 200 weitere Arbeitnehmer ein Mitglied zu wählen ist. Mit Recht erklären die obengenannten Verbände: "Ein Betriebsrat von 20 Mitgliedern ist unbedingt zu groß, als dass er noch wirksam verhandeln könnte. Aus denselben Gründen muss Vorsorge getroffen sein, dass bei erheblicher Verringerung der Arbeitnehmerzahl durch eine Neuwahl eine entsprechende Verkleinerung der Zahl ihrer Vertreter herbeigeführt wird."

Der Vorstand der demokratischen Fraktion

WTB. Berlin9. Oktober. Die demokratische Fraktion der Nationalversammlung hat gestern den Abg. v. Payer wieder zum Vorsitzenden gewählt, zum zweiten Vorsitzenden Petersen, zum dritten Hartmann ausersehen.

Die Zensur in Lothringen

WTB. Versailles8. Oktober. Nach einer Privatmeldung des "Temps" aus Metz ist der Chefredakteur Demange des in Metz erscheinenden "Metzer Freien Journals" verhaftet worden. Das Blatt wurde untersagt und die Druckerei geschlossen. Die Verhaftung soll erfolgt sein, weil die Zeitung alle Ausstände, die in letzter Zeit in Lothringen ausbrachen, ermutigte und billigte.

In Elsass-Lothringen finden, laut "Boff. Ztg.", neuerdings wieder Massenausweisungen statt.

 


Info: 

Archivsignatur: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 474, 9. Oktober 1919, Bundesarchiv Berlin, R 2202.
Copyright: Verbreitung und Vervielfältigung nur zu wissenschaftlichen Zwecken.
Zitierweise: Königsberger Hartungsche Zeitung, Königsberg, 9. Oktober 1919, in: Viadrina Center B/Orders in Motion (Hrsg.): "Grenzen, Kriege und Kongresse. Die Neuordnung Ostmitteleuropas aus dem Erbe der Imperien, 1917-1923" - Ausgewählte Projektquellen, bearb. von Thomas Rettig. URL: https://www.borders-in-motion.de/de/forschungsprojekte/dreijaehrig/0_grenzen_kriege_kongresse/koeigsberger-hartungsche-zeitung-6-10-1919 (Zugriff am xx-xx-xxxx)