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Die jüdischen Delegationen in Paris über den Schutz der nationalen Minderheiten, 26. Juni 1919

Transkription


 

No. 14 K. f. d. O. [Komitee für den Osten]26. Juni 1919

Denkschrift der jüdischen Delegationen in Paris über den Schutz der nationalen Minderheiten

Das „Comité des Délégations Juives auprès de la Conférence des Paix“ hat am 12. Juni eine in französischer und englischer Sprache abgefasste Denkschrift über den Schutz der Minderheiten und die Schadenersatzforderungen für die Pogromopfer der Friedenskonferenz überreicht. Wir sind nunmehr in der Lage, diese Denkschrift, die in ihrem wichtigsten Teile bereits Ende April den Friedensdelegationen AmerikasEnglandsFrankreichs und Italiens zur Kenntnis gebracht wurde und als Grundlage der seitherigen Verhandlungen diente, im authentischen Wortlaut zu veröffentlichen.

An Ihre Exzellenzen

den Herrn Präsidenten und die Herren Delegierten der Friedenskonferenz!

Das „Comité des Délégations auprès de la Conference de la Paix“, welches im Namen der verschiedenen unterzeichneten Organisationen handelt und für neun Millionen Juden eintritt, hat die Ehre, Ihnen nachstehende Vorschläge zu unterbreiten, die den Schutz der verschiedenen nationalen, religiösen, ethnischen oder sprachlichen Minoritäten BulgariensEstlandsFinnlandsGriechenlandsLitauensPolens
RumäniensRusslandsTschecho-Slowakiens, der UkraineJugoslawiens und anderer Länder Ost- oder Zentral-Europas zum Gegenstand haben und bittet Sie, sie gefälligst in die betreffenden Friedensverträge einzubeziehen, welche den Niederschlag Ihrer Beschlüsse bilden, wobei das Recht vorbehalten bleiben soll, all diejenigen Modifikationen vorzuschlagen, welche mit Rücksicht auf die speziellen Bedingungen, die in mehreren der oben aufgeführten Länder bestehen, notwendig werden könnten.

I.

Staat ... übernimmt den alliierten und assoziierten Mächten gegenüber nachstehende Verpflichtungen, deren internationalen Charakter er anerkennt und der Gerichtsbarkeit der Liga der Nationen unterstellt:

§ 1. Ohne irgend welche rechtliche oder andere Verfahren anerkennt und erklärt der Staat ... als vollberechtigte Bürger:

a) alle Personen, welche auf dem Territorium, das durch diesen Vertrag dem Staate ... zuerkannt wurde, geboren sind, welche bisher in keinem anderen Lande naturalisiert worden sind und welche zu irgend einer Epoche seit dem 1. August 1909 auf diesem Territorium residiert haben oder domiziliert waren, oder welche ihre Verbindungen mit diesem Territorium seit dem angeführten Datum durch Pass bewahrt haben, der ihnen durch den jetzigen oder früheren Staat ausgefolgt wurde;

b) alle Personen, welche dieses Territorium am 1. August 1914 bewohnten;

c) alle Personen, welche später in ... geboren werden und dessen Gerichtsbarkeit unterstehen.

Jeder, der zu den Kategorien a) und b) gehört, kann im Verlaufe von 2 Jahren nach dem Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrages für seine frühere Bürgerschaft optieren.

§ 2. Staat ... erklärt, dass alle seine Bürger gleiche zivile, religiöse, nationale und politische Rechte genießen werden ohne Unterschied der Geburt, der Rasse, der Nationalität, der Sprache oder der Religion und verpflichtet sich, das Leben, die Freiheit und das Eigentum aller seiner Einwohner zu schützen und ihnen Freiheit zuzusichern in allem was die Religion betrifft und die nach Außen hin freie Ausübung des damit verbundenen Kultus.

§ 3. Keines der oben angeführten Rechte kann vermindert werden, kein Ausschluss, keine Unfähigkeit oder Beschränkung kann durch das Gesetz oder auf andere Weise aus Rassen-, Nationalitäts- oder Religionsgründen ausgesprochen werden, noch kann der gleiche Schutz der Rechte irgend jemandem verweigert werden. Alle gegenteiligen Gesetze, Dekrete oder Verfügungen sind hiermit widerrufen.

§ 4. Das Recht einer Person, sich der Sprache oder der Sprachen einer nationalen Minderheit des Staates ... im Handel, Privatgebrauch, öffentlichen Versammlungen und in der Presse, ebenso wie vor den verschiedenen Gerichtshöfen zu bedienen, sei es mündlich oder schriftlich, kann nicht beschränkt werden; keine nationale Minderheit kann gehindert werden, sich ihrer Sprache in Schulen oder anderen Institutionen zu bedienen, noch kann die Gültigkeit eines Aktes oder eines Dokumentes mit Rücksicht auf die Sprache, in der es verfasst ist, in Frage gestellt werden. Die Schulen, welche sich der Sprache einer nationalen Minderheit bedienen, genießen, vorausgesetzt dass ihr Programm dem allgemein angenommenen Programm entspricht, die gleichen Rechte wie die anderen Schulen gleichen Grades. Alle bestehenden, den Sprachgebrauch betreffenden Beschränkungen, sind widerrufen.

Staat ... anerkennt die verschiedenen nationalen Minderheiten seiner Bevölkerung als ebenso viele verschiedene und autonome Organisationen bildend, welche als solche gleiche Rechte haben, Schulen und andere religiöse, Erziehungs-, Wohltätigkeits- und soziale Institutionen zu gründen und zu verwalten.

Jeder kann durch eine ausdrückliche Erklärung aus der Minderheit, welcher er angehört, austreten.

Nach dem Wortlaut der Artikel dieses Kapitels bildet die jüdische Bevölkerung von ... eine nationale Minderheit, welche alle Rechte, die darin angeführt sind, genießt.

§ 6. Staat ... genehmigt, dass je nachdem die Errichtung und der Unterhalt der Schulen und anderer Religions-, Erziehungs-, Wohltätigkeits- oder sozialer Institutionen zu Lasten eines Staates, Departements, Gemeinde oder eines anderen Budgets gehen, die aus öffentlichen Fonds bezahlt werden, jeder nationalen Minderheit eine proportioneile Quote dieser Fonds gewährt wird, die jeweils in dem betreffenden Gebiet nach dem Verhältnis der Ziffer der Minorität zur Globalziffer der Bevölkerung zugestimmt wird. Außerdem haben die Organe jeder nationalen Minorität das Recht, den Mitgliedern dieser Minorität obligatorische Steuern aufzulegen.

§ 7. Staat ... erkennt jeder nationalen Minderheit das Recht zu, in einer gewissen Proportion zur Bildung der verschiedenen Wahlkorporationen des Staates, des Departements, der Gemeinde oder anderer Korporationen beizutragen. Diese Proportion wird in jedem Bezirk bestimmt durch das numerische Verhältnis der Minderheit zur Gesamtziffer der Bevölkerung. Diese Vertreter werden durch unabhängige Wahlkollegien gewählt oder durch andere gleiche Methoden, welche diesen Minoritäten die gleiche nationale proportionelle Vertretung sichert.

§ 8. Die Personen, welche einen anderen Tag als den Sonntag zum Ruhetag haben, können nicht gezwungen werden, an diesem Tage oder an ihren anderen Feiertagen eine Arbeit zu verrichten, welche ihre Religionsgesetze als Vergehen bezeichnen; sie sind auch nicht gehindert, an einem Sonntag oder an anderen Festtagen ihren Geschäften nachzugehen.

 


Info: 

Archivsignatur: Denkschrift der jüdischen Delegationen in Paris über den Schutz der nationalen Minderheiten, o.O., 26. Juni 1919, Bundesarchiv Berlin, R901 /87275.
Copyright: Verbreitung und Vervielfältigung nur zu wissenschaftlichen Zwecken.
Zitierweise:  Die jüdischen Delegationen in Paris über den Schutz der nationalen Minderheiten, 26. Juni 1919, in: Viadrina Center B/Orders in Motion (Hrsg.): "Grenzen, Kriege und Kongresse. Die Neuordnung Ostmitteleuropas aus dem Erbe der Imperien, 1917-1923" - Ausgewählte Projektquellen, bearb. von Thomas Rettig. URL: https://www.borders-in-motion.de/de/forschungsprojekte/dreijaehrig/0_grenzen_kriege_kongresse/projektquellen/juedische-delegation-in-paris-1919 (Zugriff am xx-xx-xxxx)