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Juden im Kriege - Den Haag 1915

Transkription


 

Die Juden im Kriege

Inhalt:

1. Vorwort.

2. Denkschrift an die Arbeiterinternationale.

3. Sammlung von Dokumenten:

I. Russland und die Juden.

II. Polen und Juden.

III. Die Türkei und die Juden.

IV. Das jüdische Proletariat im Kampfe um die nationale Emanzipation.

Herausgegeben vom Verbandsbüro Den Haag 1915

Vorwort

Die Schrift, die wir der Internationalen Arbeitervereinigung unterbreiten, hat einen eng umschriebenen Zweck. Sie will die proletarische Öffentlichkeit über die Wirkungen der Kriegskatastrophe im Leben des jüdischen Volkes unterrichten. Dazu haben wir eine Reihe von Dokumenten gesammelt, die zum größten Teile keines Kommentars bedürfen. Die Sammlung ist keineswegs vollständig. Manche Schriftstücke, wie Geheimerlässe der militärischen und zivilen Behörden, sind während des Krieges überhaupt nicht erreichbar, andere Lücken sind auf die Schwierigkeiten des Verkehrs mit den kriegführenden Ländern zurückzuführen. Leider ist das Sammeln von jüdischen Kriegsdokumenten, die für die spätere Geschichtsschreibung von Bedeutung sind, noch nicht systematisiert, und wir sind erst in den letzten Monaten an die vorliegende Arbeit herangetreten. Wir haben nur Schriftstücke aufgenommen, die authentische Äußerungen oder Tatsachen enthalten und deren Richtigkeit durch ihren amtlichen Charakter oder durch die Stellung der Verfasser oder Sprecher verbürgt ist. Um den Standpunkt der Gegner des jüdischen Volkes oder jüdischer Forderungen zu kennzeichnen, haben wir den Gegnern selbst das Wort gegeben. Es war notwendig, die durch den Krieg mit elementarer Gewalt zutagegetretenen Widersprüche des jüdischen Lebens in einen ursächlichen Zusammenhang mit der Lage der Juden in den kriegführenden Ländern vor dem Kriege zu bringen. Die Denkschrift gibt diesen Überblick und, wie wir glauben, die notwendigen Aufklärungen über die Stellung des jüdischen Volkes zu seinen Nachbarvölkern. Dabei erhebt die Schrift keineswegs den Anspruch, eine Darstellung der Judenfrage in ihrer Gesamtheit zu geben. Dies war im Rahmen eines Memorandums über die aktuelle Situation nicht möglich, doch enthält es in einigen Teilen Erläuterungen, die unsere Auffassung der Judenfrage vorübergehend darlegen. Obwohl wir von der Lage der Juden in den einzelnen Ländern ausgegangen sind, so ergibt sich wohl aus der Denkschrift mit hinreichender Klarheit eine wichtige Tatsache — die Einheitlichkeit der Judenfrage in allen diesen Ländern. Es besteht ein tiefer Gegensatz zwischen den Daseinsbedingungen der Juden von Osteuropa bis Palästina(wir möchten hinzufügen — auch von Wilna bis Chicago) und ihren Bedürfnissen ökonomischer und kultureller Entwicklung. Der Krieg hat diesen tiefwurzelnden Gegensatz grell beleuchtet, er hat mit grausamer Deutlichkeit gezeigt, dass bei der Regelung der nationalen Fragen Europas und Vorderasiens nach dem Kriege die Judenfrage nicht umgangen oder verschwiegen werden darf. Die proletarische Internationale hat die

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historische Aufgabe, bei den Friedensverhandlungen auch in der Judenfrage das erlösende Wort des Rechtes und der Wahrheit auszusprechen.

Wir wissen, dass man in der Arbeiterbewegung Westeuropas den Versuchen, die tätige Sympathie des Proletariats für die Sache der Juden zu gewinnen, mitunter mit dem beklemmenden Gefühl gegenübersteht, man wolle die Sozialdemokratie in eine „Judenschutztruppe” verwandeln. Dass es aber nicht gerade ein Ehrentitel ist, sich für das verfolgte Volk der Juden einzusetzen — man erinnere sich auch an die Resolution des Internationalen Sozialisten-Kongresses in Brüssel, die den Philosemitismus genau so ablehnt, wie den Antisemitismus, — erklärt sich damit, dass man in der europäischen Arbeiterschaft die Judenheit nach ihrem geringen Bruchteil in Westeuropa zu beurteilen gewohnt ist. Daher die Vorstellung, die Juden seien eine Kaste von Finanzmännern, Kaufleuten und Industriellen, die man in konsequenter Bekämpfung aller Rassenvorurteile gegen Verfolgungen in Schutz nimmt, die aber mit dem Proletariat als Klasse in der Tat nichts gemein haben. Nichts wäre irriger, als das ganze Volk nach dieser plutokratischen Oberschicht zu beurteilen. Die Massen des jüdischen Volkes gehören dem um seine Existenz schwer kämpfenden arbeitenden Mittelstand und dem Proletariat an. Das ist zumeist unbekannt, soll daher mit einigen Zahlen erörtert werden.

Von 5.063.000 Juden, die in Russland (1897) gezählt wurden, ernährten sich 1.957.000 vom Handel. Ihnen standen 2.774.000 Juden gegenüber, die in Handwerk und Industrie (1.794.000), im Lohndienst aller Art (335.000), in freien Berufen (265.000), im Verkehr (201.000) und in der Landwirtschaft (179.000) beruflich tätig waren. Aber ebenso wie die "industrietätigen" Juden fast ausschliesslich schwer bedrängte selbstarbeitende Handwerker sind, sollte man sich die im Handel Beschäftigten nicht als wohlhabende Kaufleute vorstellen. Es sind zumeist armselige Händler und Krämer, die in steter Gefahr schweben, zu deklassierten Berufslosen herabzustürzen. Gehören also zumindest zwei Drittel der Juden Russlands zu den Schichten, die sich von der Arbeit ihrer Hände erhalten, so bildet das Proletariat mehr als ein Drittel der jüdischen Bevölkerung. Nach der offiziellen Statistik und privaten verlässlichen Zählungen waren im Jahre 1897 unter den Juden Russlands: mehr als 275.000 Gewerbe- und Industrie-Arbeiter, 175.000 im Lohndienst verschiedener Art, etwa 150.000 Handelsproletarier, also insgesamt 600.000 berufstätige Arbeiter; die Angehörigen hinzugerechnet, ergibt sich eine Arbeiterbevölkerung von 1,5 Millionen bis 1.800.000 Seelen. Seit dem Jahre 1897 haben sich die Verhältnisse nach allen Anzeichen eher im Sinne einer stärkeren Produktivierung und Vergrößerung des Lohnproletariats verschoben. Also ein Drittel der Juden Russlands gehört der Arbeiterschaft an.

Ähnlich liegen die Verhältnisse in Österreich, wo sich die im J. 1900 gezählten 1.225.000 Juden nach folgenden Berufen verteilen. Den 430.000 Handel treibenden Juden standen 676.000 gegenüber, die sich von Handwerk und

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Industrie (351.000), Lohndienst wechselnder Art (67.000), Verkehr (38.000), freien Berufen (80.000) und Landwirtschaft (140.000) ernährten. *) Was über den harten Lebenskampf des jüdischen Mittelstandes in Russlandgesagt wurde, gilt vielleicht in noch höherem Grade von dem jüdischen Massensiedlungsgebiet in Österreich—Galizien und der Bukowina. Auch in Österreich haben wir ein zahlreiches jüdisches Proletariat: 81.500 Handwerks- und Industrie-Arbeiter, 42.600 Handelsangestellte, 48.000 Lohnarbeiter verschiedener Art. Diese 172.000 Proletarier ergeben mit ihren Angehörigen eine Arbeiterbevölkerung von 350.000 bis 450.000 Köpfen, oder ein Drittel der JudenÖsterreichs.

Blicken wir über den Ozean, nach den Vereinigten Staaten, wo in drei Jahrzehnten das zweitgrößte jüdische Zentrum entstand, so finden wir noch größere jüdische Arbeitermassen konzentriert. Wenigstens 60 % der Einwanderer sind verdrängte Handwerksproletarier, die in den gewaltigen "jüdischen Nadelindustrien" aufgehen. So sind von den 2,5 Millionen seit 1881 neu eingewanderten Juden zumindest anderthalb Millionen Arbeiter in verschiedenen Industrien. In der Tat zählt man in Nordamerika gegen 350.000 organisierte jüdische Arbeiter (etwa eine Viertelmillion in New York allein), rechnet man die zumindest 150.000 noch nicht Organisierten und die Familienangehörigen hinzu, gelangt man zu demselben Resultat. Also die Hälfte der Juden Nordamerikas gehört zur Arbeiterklasse.

Wir wollen unsere Vorbemerkung mit trockenen Zahlen nicht beschweren. Die angeführten beweisen mit genügender Deutlichkeit, dass die Juden ein Volk von wirtschaftlich Schwachen, Bedrängten und von Proletariern sind. Darum war die jüdische Arbeiterbewegung stets eine hingebende Trägerin der sozialistischen Ideale und wurde, trotz ihrer Jugend, zu einem so bedeutenden Faktor in der jüdischen Volkspolitik; darum sehen große Massen des jüdischen Volkes in der Arbeiterinternationale ihren nächsten Freund und Anwalt. Man muss in der jüdischen Geschichte weit zurückgreifen, bis zu den Kreuzzügen oder dem letzten Todeskampf mit den Römern auf eigenem Boden, um Verwüstungen anzutreffen, wie sie dieser Weltkrieg im jüdischen Leben zurücklässt. Das jüdische Volk braucht die Freundschaft der Besten und Edelsten aller Völker, aber es hat sie auch verdient.

Note: *) In Russland gehören der Forst- und Landwirtschaft zum größten Teil Bauern (in Südrussland) an, in Österreich hingegen ist die Zahl der Gutspächter sehr bedeutend.

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allen Ortschaften mit merklicher jüdischer Bevölkerung an hunderttausenden unschuldigen, wehrlosen jüdischen Männern und Frauen. Greisen und Kindern. Die Einzelheiten sind zu entsetzlich, zu quälend, um hier dargestellt zu werden.

Russland hat seiner jüdischen Bevölkerung den Krieg erklärt und führt einen grausamen, erbarmungslosen Vernichtungskampf gegen ein Sechsmillionen-Volk. Die Ruchlosigkeiten und unmenschlichen Schandtaten der Armee und der Behörden konnten sogar von der russischen Zensur in der Presse nicht ganz unterdrückt werden: das Elend wälzte sich auf allen Straßen, schrie aus den versiegelten Vieh- und Lastwagen, in die man die jüdischen Vertriebenen sperrte, brachte wachsende Not und Krankheitsseuchen in die vorgeschriebenen Wohnorte, das Blut der unschuldig Hingerichteten und von Knutenhelden zu Tode Gepeitschten schrie nach Vergeltung. So kam die Wahrheit über die russische Grenze schon vor Monaten. Die Reden der Abgeordneten in der letzten Duma-Session brachten Enthüllungen und Feststellungen, die zu entkräften von der Regierungsbank gar nicht versucht wurde. Man weiß nicht, worüber man mehr staunen soll — über die Ungeheuerlichkeit der begangenen zahllosen Verbrechen, oder über die bodenlose Heuchelei und Unverfrorenheit der russischen Regierung, die von der Tribüne der Duma oder durch ihre Gesandten und Pressagenten im verbündeten und neutralen Ausland alle Judenverfolgungen bis nun skrupellos dementieren ließ. Ja, sie ließ amtlich verkünden, die Lage der russischen Juden hätte sich seit dem Kriegsbeginn gebessert! Es muss wahrheitsgetreu festgestellt werden, dass die reaktionäre Mehrheit der russischen Reichsduma die nach außen hin zweideutige, nach innen unwandelbar brutale Politik der Regierung verständnisvoll unterstützt; sie hat in ihrem Vertrauensvotum vom 5. August die jesuitische Einteilung der Bürger Russlands in treue und verdächtige akzeptiert, den Zusatzantrag der Opposition, der die Beseitigung aller Ausnahmegesetze gegen die nichtrussischen Völker forderte, abgelehnt und der Interpellation der sozialdemokratischen Fraktion und der Arbeitspartei über die Judenpolitik der Regierung die Dringlichkeit versagt. So sind die russischen Duma-Parteien von den „wahrhaft-russischen" Nationalisten bis zu den Oktobristen mitschuldig an dem Vernichtungsfeldzug ihrer Regierung gegen das jüdische Volk.

Die Geschichte kennt kein ähnliches Beispiel, dass ein Heer auf eigenem Boden, gegen die „eigenen Bürger" ärger als im Feindeslande wütet. Man schätzt die Zahl der Juden, die, von Haus und Hof vertrieben, sich auf die Wanderung begaben, auf anderthalb Millionen Seelen, die Gesamtzahl der durch die großfürstliche Rückzugsstrategie heimatlos gemachten Menschen schwankt nach verschiedenen Angaben zwischen 6 und 12 Millionen! Die gewaltige Flut der Flüchtenden und Vertriebenen hat schließlich den

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eisernen Ring gesprengt, in dem man die Juden Russlands niederhielt. Als alle Landstraßen von unübersehbaren Scharen obdachloser jüdischer „Flüchtlinge" überfüllt waren, als Tausende unter freiem Himmel kampierten, himmelschreiende Not und Seuchen in die Städte trugen, als zahllose Lastzüge mit verbannten Juden, abgesperrt und versiegelt, von einem Ort nach dem anderen herumgeschickt, von den Gouverneuren zur „Abladung ihrer Güter" nicht zugelassen und auf Nebengeleisen durch Wochen verschoben wurden, als all diese Vorgänge unmittelbar hinter der Front auch zu einer militärischen Kalamität wurden — da entschloss sich erst die russische Regierung, den Kerker der Ansiedlungszone, wohl nicht aufzuheben, aber zu erweitern. Das menschliche Naturrecht der Bewegungsfreiheit wurde den Juden keineswegs zugestanden, die „Tscherta” wurde lediglich erweitert. Die Luft Petrograds undMoskaus, des kosakischen Don-Gebietes oder der Residenzen des Zaren darf der Jude nach wie vor nicht atmen. Auch die Dörfer, das eigentliche Land, bleiben den Juden verbotenes Gebiet. Nur in den Mauern der Städte können sie sich nunmehr aufhalten.

So lautet der ministerielle Erlass. Es steht aber vorderhand fest, dass dieser „Gunst” der zarischen Regierung kaum beschieden sein wird, uneingeschränkt in die Praxis umgesetzt zu werden. Die Gouverneure revoltieren demonstrativ und machen den Regierungserlass durch Ausführungszusätze faktisch unwirksam. Und die niederen Vertreter des „Tschins", des Beamtentums, erklären öffentlich, dass sie den „Kampf" mit der Obrigkeit, die ihnen in einem plötzlichen Anfall von „Liberalismus” die unerschöpfliche Einnahmequelle der jüdischen Rechtlosigkeit entzog, nicht so bald aufgeben werden. In diesem Augenblick stehen die herumirrenden Juden, die im Vertrauen auf die „Reform” ihren Wohnsitz in russischen Städten aufschlagen wollten, vor denselben Mühseligkeiten und Demütigungen wie zuvor. Die Ausweisungen nehmen kein Ende und verschonen nach wie vor auch verwundete jüdische Soldaten nicht. Und all das — mehrere Wochen nach der angeblichen „Aufhebung der Tscherta”.

Kaum war die große „Reform”, die eigenartige Judenemanzipation verkündet, als russische Regierungssendboten schon an den Türen der jüdischen Hochfinanz in London und New York klopften, um die Belohnung für die so weitgehende Judenfreundlichkeit in klingender Anleihemünze zynisch zu verlangen. Da wurden erst die geheimnisvollen Konferenzen des Russisch-Amerikanischen Comités mit den russischen Ministern über die Judenrechte, sowie die Telegramme des Herrn Wischnegradsky an mächtige Finanzjuden in London verständlich. Massenhunger, Seuchen, sittlicher Verfall in seinen krassesten Auswüchsen, anderthalb Millionen jüdischer Frauen, Mädchen, Kinder, Greise in tiefster Verzweiflung, ganz am Rande des Lebensweges, der privaten Wohltätigkeit jüdischer Hilfskomitees überlassen —

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In der Bedrängnis wenden wir uns an die Sozialdemokraten der mit der Türkei verbündeten Staaten. Genau so, wie wir die Aufmerksamkeit der Sozialisten und Arbeiterparteien EnglandsFrankreichs und Italiens, insbesondere auf die Vorgänge in Russland lenken. Wir wissen nicht, ob eine freundschaftliche Einwirkung der mitteleuropäischen Mächte auf die Türkei und der Westmächte auf Russland zu greifbaren Ergebnissen führen würde. Aber die Regierungen von Mächten, die als Kulturstaaten betrachtet sein wollen, müssen erfahren, dass sie sich an allen Anschlägen gegen Recht und Freiheit mitschuldig machen, wenn sie ihre „Freunde" gewähren lassen. Dies müssen die Sozialisten aller Länder aussprechen, gleichgültig, ob sie auf die Regierung ihres Landes einen direkten oder indirekten Einfluss ausüben.

VII

Judenfrage und Internationale

Die Aufgabe der proletarischen Internationale besteht natürlich nicht bloß darin, die unmittelbaren Gefahren abzuwenden, die den Juden Russlands und Palästinas drohen. Wir erwarten von der Solidarität des internationalen Proletariats die Aufrollung der jüdischen Frage im Rahmen der nationalen Fragen, deren Lösung durch den Krieg unvermeidlich geworden ist. Trotz der großen Unterschiede der Kultur und der politischen Verhältnisse in Russland,PolenÖsterreich und der Türkei, ergibt sich aus unserem Überblick, dass die politischen Kämpfe, die die Existenz von neun Millionen Juden in diesen Ländern bedingt, nur einen Sinn haben. Es ist ein Kampf der herrschenden Gruppen der Nationen, in deren Mitte die Juden leben, gegen den Bestand und für die Verdrängung oder nationale Aufsaugung der jüdischen Minderheiten, während die jüdischen Volksmassen ihre nationale Eigenart mit dem Aufgebot aller Lebenskräfte, unter den schwersten ökonomischen und kulturellen Entbehrungen verteidigen und bewahren. In Übereinstimmung mit der überwiegenden Mehrheit der jüdischen Arbeiterschaft, und wir sind überzeugt, auch des gesamten jüdischen Volkes, verlangen wir das Recht der nationalen Selbstbestimmung für die jüdischen Minderheiten in allen Ländern. Wir fordern, vornehmlich in Nationalitätenstaaten, wo die Juden eine selbständige Kulturgemeinschaft bilden und ihr nationales Eigenleben zu erhalten bestrebt sind, rechtliche Bürgschaften für unseren nationalen Bestand und unsere ungehinderte Kulturentwicklung, Selbstverwaltung in nationalen Angelegenheiten und die nationale Rechtsgleichheit in Staats-, Landes und Stadtverwaltung. Wir wissen, dass die territoriale Zerrissenheit der Juden Schwierigkeiten besonderer Art bietet und Probleme bedingt, auf die wir hier nicht eingehen

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können. Es ist jedoch einleuchtend, dass die Formen nationaler Selbstverwaltung und des Rechtsschutzes für die jüdische Minderheit sich finden lassen, sobald der Grundsatz der nationalen Gleichberechtigung der Juden zugestanden ist. Wenn der bürgerlich-liberale Staat Mittel und Wege gefunden hat, das Problem der religiösen Duldung und der Autonomie der Glaubensgemeinschaften zu lösen, so wird der demokratische Volkstaat, dem wir uns nähern, die Kraft finden müssen, das verwickelte Problem des freien Bekenntnisses zur Nation und der nationalen Selbstverwaltung in Nationalitätengebieten zu lösen. Obwohl in diesem Prinzip schon enthalten, so muss noch insbesondere das Recht der Juden auf freie Einwanderung, Ansiedlung und nationale Gliederung und Entfaltung in Palästina und den angrenzenden Ländern ausdrücklich ausgesprochen werden. Wir fordern gewiss nichts Ungewöhnliches. Nur die Anwendung der allgemeinen Grundsätze des nationalen Rechtes, wie es von der Internationale stets verkündet und vertreten wurde, auch auf die jüdischen Volksmassen. Sie siedeln zumeist in Gebieten, wo nationale Interessen mehrerer Völkerschaften sich berühren oder zusammenstoßen. Es ist nur ein billiges Verlangen, dass die Lebensfragen von neun Millionen unmittelbar betroffenen Juden in den Bereich der Politik der proletarischen Internationale eingeschlossen werden, wie die polnische oder ukrainische, lettische oder armenische Frage. Dabei ist die Judenfrage nicht nur ein europäisches Problem, sie ist eine Weltfrage, die in die ökonomischen und politischen Interessen vieler Staaten tief eingreift.

Diese Aufgaben des Sozialismus und der Demokratie gegenüber dem jüdischen Volke, mögen sie auch selbstverständlich scheinen, müssen deutlich umschrieben werden. Denn bis jetzt schien in der sozialistischen Internationale eine Auffassung der Judenfrage vorherrschend zu sein, die den Lebensbedürfnissen der arbeitenden Massen des jüdischen Volkes geradezu widerspricht. Man hat in der sozialistischen Bewegung in der Judenfrage vielfach die bürgerlich-liberale, assimilatorische Ideologie kritiklos übernommen. Wir haben gesehen, dass die Auflösungstendenz ein Ergebnis des ökonomischen und sozialen Anschlusses der jüdischen Bourgeoisie an die herrschenden Klassen ihres Interessengebietes ist. Dass sie in weiterer Folge die aus dem jüdischen Bürgertum hervorgegangene Intelligenz ergriff und durch sie auch die Anfänge der jüdischen Arbeiterbewegung beeinflusste, ändert nichts an der Tatsache ihres plutokratischen Ursprungs und Charakters. Der Kampf für die „bürgerliche Emanzipation” der Juden, an dem auch die Sozialisten aller Länder teilnahmen, hat sich mit dem Aufstieg der jüdischen Volksmassen und dem politischen Eingreifen des jüdischen Proletariats in einen Kampf gegen die nationale Emanzipation der Juden gewandelt. Es ist kein Zufall, dass die Genossen Dr. Diamand und Dr. Liebermann, Mitglieder des polnischen sozialdemokratischen Klubs des österreichischen Reichsrats, sich mit den

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reaktionärsten Vertretern der jüdischen Plutokratie Galiziens zu einer assimilatorischen Deklaration über die polnisch-jüdische Frage zusammenfanden. Diese Koalition ist geradezu symbolisch und im Wesen dieser volksfremden Strömung begründet. Darum erwarten wir von der sozialistischen Internationale die ausdrückliche Anerkennung des Rechtes des jüdischen Volkes auf Existenz und Entwicklung, sowie auf Schutz gegen gewaltsame Assimilation.

Um ihre Stimme für das nationale Recht der Juden erheben zu können, muss die Internationale Arbeiter-Assoziation die Achtung vor der nationalen Individualität der Juden in ihrer eigenen Organisation zum Ausdruck bringen. In den Vertretungskörperschaften der Sozialistischen Internationale muss der jüdischen Arbeiterschaft das Recht auf eine nationale Sektion zugestanden werden, ebenso wie anderen Völkern, die keine staatliche Selbständigkeit mehr besitzen oder mehreren Regierungen unterworfen sind. In dem Beschluss (vom 4. März 1906) über die Vertretung bei internationalen Kongressen und im Internationalen Büro wird als Nation eine Bevölkerungsgruppe bezeichnet, „deren Streben nach Selbständigkeit und deren geistige Einheit als Folge einer langdauernden historischen Tradition anzusehen sind, mag sie unter einer oder verschiedenen Regierungen stehen." Die Verfasser dieser Formel haben dabei sicherlich nicht an das jüdische Volk gedacht, aber es kann kaum bestritten werden, dass sie den Anspruch auf eine jüdische Sektion in der proletarischen Internationale auch formell begründet. Die Zugehörigkeit der jüdischen sozialistischen Parteien zu dieser Sektion kann nicht von ihren Auffassungen in der Judenfrage abhängig gemacht werden, solange sie den allgemeinen Grundsätzen des internationalen Sozialismus nicht widersprechen. Sollte es bei den ersten Schritten zur Wiederaufnahme der internationalen Verbindungen nicht möglich sein, diese dringende Reform durchzuführen, dann muss jedenfalls an den Beratungen der sozialistischen und Arbeiterparteien aller Länder über die Friedensaktion des Proletariats, sei es im Internationalen Büro, oder bei einem außerordentlichen internationalen Kongress, eine besondere Delegation der jüdischen sozialistischen und gewerkschaftlichen Organisationen teilnehmen. Nur eine derartige Sondervertretung des jüdischen Proletariats aller Länder wird die Internationale über die Lage und die Forderungen des jüdischen Volkes in den verschiedenen Ländern unterrichten können. Und nur die Willenskundgebung einer derartigen umfassenden jüdischen Vertretung kann die Grundlage für eine politische Aktion der Internationale bilden.

Die Hoffnungen der jüdischen Arbeiterschaft sind mit der Friedensaktion des internationalen Proletariats verknüpft. Der Krieg hat gezeigt, dass die arbeitenden Massen im Kriege, wie im Frieden, die unentbehrliche Grundlage der Gesellschaft und ihrer staatlichen Organisation bilden. Ohne Teilnahme des Proletariats, nicht auf den Schlachtfelden allein, sondern in

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Kohlengruben und Hüttenwerken, im Verkehrwesen und in der Erzeugung der Kriegsmittel, ist die moderne Kriegführung undenkbar. Auf dieser Unentbehrlichkeit beruht die unüberwindliche Macht der Arbeiterschaft. Sie wird sie schliesslich gebrauchen im Sinne der Menschlichkeit, Freiheit und eines baldigen Friedens, der keine Keime zu neuen Völkerkonflikten enthält. Das kann nur erreicht werden, wenn dem völkerunterjochenden Imperialismus die Lösung der nationalen Fragen auf der Grundlage freier Selbstbestimmung und demokratischen Rechts entgegengestellt wird. Der sozialistische Staatenbund kann nur eine Föderation freier und gleicher Völker sein.

Den Haag, im November 1915.

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nicht akzeptiert, wird sich das Nationale Arbeiterkomitee an dem Kongress nicht beteiligen und von der Konferenz zurückziehen. Die einzelnen Organisationen, aus denen sich das Komitee zusammensetzt, haben dann die Freiheit, nach ihrer Einsicht und nach ihren Grundsätzen zu handeln.

Resolution der allgemeinen Konferenz der jüdischen Arbeiterorganisationen Englands

Abgehalten am 12. September 1915 in Leeds. 1)

Das jüdische Proletariat als Teil eines Volkes, das infolge seiner abnormen nationalen, politischen und ökonomischen Lage durch Kriege am meisten zu verlieren hat, hat den inbrünstigen Wunsch, dass das Blutvergießen zwischen den Mächten ehestens ein Ende nehmen soll.

Die jüdische Arbeiterschaft wünscht ferner von tiefstem Herzen und wird auch daran mitwirken, dass die sozialistische Internationale mit der größten Beschleunigung wieder aufgebaut wird, um ihre große Mission erfüllen zu können, die Völker zu verbrüdern, eine demokratische Lösung des europäischen Konflikts herbeizuführen, den Kampf für die Befreiung des Proletariats vom kapitalistischen Joch fortzusetzen, um den erhabenen sozialen Zustand zu schaffen, der Kriege unmöglich machen wird.

Da England, das Volk der Demokratie, Hand in Hand mit Russland geht, der reaktionärsten Macht Europas, die die kleinen Nationen und insbesondere die Juden am meisten unterdrückt, fordern wir das englische Volk und insbesondere das englische Proletariat auf, ihre Regierung zu bewegen, nicht zuzulassen, dass Russland seine eigene Bevölkerung verschiedener Nationalitäten unterdrückt und misshandelt, dass es insbesondere mit der Verfolgung von Juden und der Veranstaltung von Pogromen aufhören soll.

Wir erklären es ferner als die Pflicht der Völker, ihre Regierungen dahin zu beeinflussen, dass die europäischen nationalen Fragen auf demokratischer Grundlage gelöst werden, im Sinne der Sicherung und Beschützung der Rechte der unterdrückten Völker, sowie der nationalen Minderheiten, überall und ausnahmslos. Darum verlangen wir die volle Gleichberechtigung der Juden in RusslandRumänien und allen anderen Ländern, wo sie entrechtet sind, Abschaffung der Beschränkungen für Einwanderung und Ansiedlung in Palästina, sowie in allen anderen Ländern.

Resolution der jüdischen Arbeitervereine in Warschau bezüglich der jiddischen Schulsprache

Auf einer Versammlung der Vorstände sämtlicher jüdischer Arbeitervereine in Warschau wurde folgende Resolution bezüglich der Unterrichtssprache in der jüdischen Volksschule gefasst und dem Warschauer Bürgerkomitee unterbreitet:

„Vom Standpunkt ausgehend, dass die jüdische Volksschule national sein muss, d. h. dass die Schulsprache nur die Muttersprache der Schüler

Note: 1) Die Londoner Arbeiterschaft war durch Delegierte des Arbeiterverbandes für jüdische Rechte vertreten.

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sein dürfe; dass ferner das Schulprogramm und die Unterrichtsmethoden der Eigenart der Verhältnisse des volkstümlichen Milieus angepasst sein müssen, dass die Schule dem Volke allein gehören müsse, und in Anerkennung der Tatsache, dass die 300.000 Juden Warschaus eine besondere, vollberechtigte nationale Gruppe darstellen — erklärt die Versammlung, dass die kulturellen Interessen der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung nur durch die jüdische Schule befriedigt werden können. Die Unterrichtssprache muss jiddisch sein, und der polnischen Sprache muss als Landessprache ein gebührender Platz als Unterrichtsgegenstand in der jüdischen Schule eingeräumt werden. Die Schule muss einen weltlichen Charakter haben, obligatorisch und unentgeltlich sein.

In Anbetracht der Tatsache, dass die bestehenden jüdischen Chadarim nach ihrem Inhalt und Geist in einem scharfen, unaufhebbaren Widerspruch mit den Bedürfnissen des modernen gesellschaftlichen Lebens und der elementaren Forderungen einer nationalen Pädagogik sich befinden, dass sie, zur Erfüllung rein religiöser Aufgaben bestimmt, den Interessen der Volksbildung nicht dienen, — erklärt die Versammlung, dass ein neues jüdisches Schulwesen geschaffen werden muss.

Die Forderung der Versammlung geht dahin, dass das Bürgerkomitee einen jüdischen Schulrat ins Leben rufe, dessen Mitglieder durch die Vertreter der jüdischen Bevölkerung gewählt werden. Diese Schulbehörde soll mit der Schaffung und der Verwaltung der neuen jüdischen Volksschulen beauftragt werden.

Der Warschauer jüdischen Gemeindeverwaltung als antidemokratischer, unvolkstümlicher Institution, die den wahren kulturellen Interessen der jüdischen Massen fremd gegenübersteht und keineswegs die legitime Volksvertretung repräsentiert, — kann diese Arbeit nicht anvertraut werden. Dem jüdischen Schulrat muss ein entsprechender Teil der vom Bürgerkomitee für Schulzwecke bestimmten Geldmittel zur Verfügung gestellt werden.

Die Versammlung fordert das Bürgerkomitee auf, das Prinzip einer obligatorischen, unentgeltlichen Volksschule auch auf die jüdischen Schulen auszudehnen, so dass den Eltern die Möglichkeit freistehen soll, nach ihren Wünschen ihre Kinder in jüdische oder polnische Schulen zu schicken."


 

Info

Archivsignatur: Die Juden im Kriege, Den Haag, 1915, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bern 863.
Copyright: Verbreitung und Vervielfältigung nur zu wissenschaftlichen Zwecken.
Zitierweise: Die Juden im Kriege, Den Haag, 1915, in: Viadrina Center B/Orders in Motion (Hrsg.): "Grenzen, Kriege und Kongresse. Die Neuordnung Ostmitteleuropas aus dem Erbe der Imperien, 1917-1923" - Ausgewählte Projektquellen, bearb. von Thomas Rettig. URL: https://www.borders-in-motion.de/de/forschungsprojekte/dreijaehrig/0_grenzen_kriege_kongresse/projektquellen/juden-im-kriege (Zugriff am xxx)