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Brief aus Ober Ost, 28. Dezember 1917

Transkription


 

Oberbefehlshaber Ost.

(General beim Stabe).

An die Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Amtes, zu Händen des Herrn Vizekonsul v. Kauffmann,

Berlin W.8. Wilhelmstraße 62.

Zum Abdruck in den "Neuen Jüdischen Nachrichten" wird der beifolgende "Brief aus Oberost" übersandt.

Von seiten des Oberbefehlshabers Ost.

Der Verwaltungschef.

H. Qu. Ost, den 1. Januar 1918

Keine Bedenken

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Brief aus Oberost

Die Teilnahme der Vereinigten Staaten am Kriege an der Seite unserer Gegner hatte u. a. die bedauerliche Folge, dass der regelmäßige Zufluss der erheblichen Hilfsgelder, die die amerikanischen Juden ihren Glaubensgenossen in den von Deutschland und seinen Verbündeten besetzten Gebieten seit fast zwei Jahren allmonatlich hatten zukommen lassen, plötzlich ins Stocken geriet. Hierdurch war die Fortsetzung der segensreichen Arbeit der Wohltätigkeitsanstalten, vorzüglich in den Städten, ernstlich in Frage gestellt worden, da die durch den Krieg und die Abwanderung der meisten wohlhabenden Elemente geschaffenen Verhältnisse eine Annahme von Unterstützungen von außerhalb notwendig gemacht hatten.

Langwierigen Verhandlungen, die durch Vermittlung von menschenfreundlichen Holländern zwischen den amerikanischen Geldgebern und den deutsch-jüdischen Hilfsorganisationen geführt worden sind, haben nunmehr das erfreuliche Ergebnis gezeitigt, dass das amerikanische Hilfswerk von neuem in Fluss kommt. Der Oberbefehlshaber Ost ist den ihm von den Holländern übermittelten Wünschen der Amerikaner weitgehend entgegengekommen, um der notleidenden Bevölkerung die Wohltaten der Bruderhilfe zu sichern. Durch besonderen Befehl wurde ein aus Einheimischen gebildetes Zentralkomitee mit dem Sitze in Wilna gegründet, dem Vertrauenspersonen sämtlicher Juden aus dem Obost-Gebiete angehören.

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An dieses Zentralkomitee werden die amerikanischen Gelder direkt aus Holland geleitet, um auf die einzelnen Verwaltungsgebiete verteilt zu werden. Bezirks-, Kreis-, und schließlich Ortskomitees - alle aus Delegierten, die das Vertrauen ihrer Mitbürger in dieses Ehrenamt berufen - gebildet, nehmen die Unterverteilungen vor und führen schließlich die Gelder ihrer eigentlichen Bestimmung zu. Der erste größere Betrag ist bereits eingetroffen, sodass die neugeschaffene Organisation sofort in Kraft treten konnte. Zweifellos wird sie dazu beitragen, der Bevölkerung aufs Neue zu zeigen, in welchem Masse die Landesverwaltung bemüht ist, das Los der Armen besser zu gestalten.

Dem aus der Mitte der jüdischen Bevölkerung laut gewordenen Wunsche, möglichst frühzeitig die Herstellung der Osterbrote (Mazzen) für das kommende Osterfest gesichert zu wissen, ist insofern Rechnung getragen worden, als trotz der relativen Lebensmittelknappheit bestimmt wurde, tunlichst schon bis zum 15. Februar 1916 die zuständige Portion im voraus zu verabfolgen, um die rituelle Herstellung der Mazzen in aller Ruhe zu ermöglichen. Bei dieser Gelegenheit wurde besonders darauf hingewiesen, bei Auswahl des Getreides die rituellen Bedürfnisse zu berücksichtigen, wenn auch - wie bereits in den Vorjahren - die Notwendigkeit einer Mischung von Weizen- und Roggenmehl betont wird.

Im allgemeinen hat sich die Lage der Bevölkerung etwas gehoben. Erfreulicherweise darf das auch insbesondere von Wilna gesagt werden, wo eine reiche Kartoffel-Rübenernte die Ernährung der Ärmsten gegen das Vorjahr nicht unwesentlich erleichtert hat.

 


Info: 

Archivsignatur: Brief aus Ober Ost, 28. Dezember 1917, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, R121439.
Copyright: Verbreitung und Vervielfältigung nur zu wissenschaftlichen Zwecken.
Zitierweise: Brief aus Ober Ost, 28. Dezember 1917, in: Viadrina Center B/Orders in Motion (Hrsg.): "Grenzen, Kriege und Kongresse. Die Neuordnung Ostmitteleuropas aus dem Erbe der Imperien, 1917-1923" - Ausgewählte Projektquellen, bearb. von Thomas Rettig. URL: https://www.borders-in-motion.de/de/forschungsprojekte/dreijaehrig/0_grenzen_kriege_kongresse/projektquellen/Brief-Ober-Ost (Zugriff am xx-xx-xxxx)