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Verhältnis zwischen Polen und Juden, Warschau, 31. Oktober 1918

Verhältnis zwischen Polen und Juden, Warschau, 31. Oktober 1918

Transkription:


Der Verwaltungschef bei dem General-Gouvernement Warschau.

Warschau, den 31. Oktober 1918.

S.-Nr. IV J. 2443.

Euerer Exzellenz überreiche ich anliegend Abschrift eines von mir an das Auswärtige Amt auf dessen Ersuchen erstatteten Berichts zur geneigten Kenntnisnahme.

An das Reichsamt des Innern, Berlin.



Der Verwaltungschef bei dem Generalgouvernement Warschau.

Warschau, den 31. Oktober 1918.

IV J. 2443.

Über das gegenwärtige Verhältnis zwischen Polen und Juden gestatte ich mir folgendes zu berichten mit dem Anheimstellen, dem Schriftsteller Weinbaum in Zürich das Material zugänglich zu machen.

Je weiter die polnischen Behörden im Generalgouvernement Warschau allmählich ihre Verwaltungstätigkeit ausdehnen, umso deutlicher zeigt sich, dass sie die Juden trotz angeblicher Toleranz wenig freundlich und ohne Objektivität behandeln. Sie haben weder den Willen noch die Kraft, der allgemeinen judenfeindlichen Stimmung der Bevölkerung entgegenzutreten. Der Kampf gegen die Juden hat keine einheitliche Strategie, er ist nicht wirtschaftlicher oder nationaler oder kultureller Natur - es ist ein blinder Hass, der sich entlädt und der einfach zerstören will.

Bereits zu russischer Zeit hatten die Juden in Polen weit mehr zu klagen als in anderen russischen Gebietsteilen. Zu den einschränkenden und erniedrigenden Verordnungen des Staats kam in Polen ein wirtschaftlicher Boykott gegen Juden, der mit Flug - und Hetzblättern, mit Drohungen gegen Käufer und Lieferanten von Juden arbeitete. Im Kriege hat sich an dieser Tendenz nicht viel geändert.

Schon zu Beginn der städtischen Selbstverwaltung im Jahre 1916 hatte der Warschauer Stadtrat in der städtischen Markthalle die Trennung der jüdischen und

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christlichen Stände verfügt. Später übertrug er das Lebensmitteldezernat einem gewissen Dr. Ilski, der zu russischer Zeit die Seele der Boykottbewegung gewesen war. Klagen von jüdischer Seite gegen die Zurücksetzung bei den Lieferungen waren nun an der Tagesordnung. Jetzt hat Ilski die in der Anlage I angeschlossene Verfügung erlassen. Die jüdischen Zeitungen machen mit Recht darauf aufmerksam, dass durch die angedrohte Entziehung der Lieferungen nicht nur die Angestellten der Verkaufsstellen ihre Stellung verlieren würden, sondern auch die jüdische Bevölkerung, die in den Kundenlisten dieser Geschäfte steht, zunächst ohne Brot bleiben würde.

Es blieb aber nicht bei den administrativen Maßnahmen gegen den jüdischen Handel. Nach jüdischen Blättermeldungen, die, wenn auch nicht frei von Übertreibungen, so doch im wesentlichen richtig sind, hat die durch die Boykottagitation aufgehetzte Menge in mehreren Fällen jüdische Läden geplündert und die Inhaber misshandelt. Dies geschah einmal in Warschau auf dem Kereceliplatz, das andere Mal in der Targowastraße in Praga. Den Bericht der jüdischen Presse über diese Ausschreitung füge ich in der Anlage II und III bei.

Im Stadtrat ist eine dringliche Interpellation in dieser Angelegenheit durch den jüdischen Stadtverordneten Truskier angemeldet worden, außerdem haben sich mehrere jüdische Organisationen an das polnische Ministerium des Innern mit der Bitte um Schutz gewandt. In einer Sitzung der zionistischen Vertrauensmännerkonferenz hat der Generalsekretär Grünbaum in seiner Eröffnungsansprache Ausführungen gemacht, die nachher durch die Presse verbreitet wurden und hier als Anlage IV bei gefügt sind.

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Veranlasst worden sind die Ausschreitungen außer durch die Boykottagitation in der Presse und von Mann zu Mann anscheinend auch durch direkte Aufrufe zu Gewalttätigkeiten, die in großer Anzahl an den Häusern angeklebt werden. Als vor fünf Monaten die ersten Plakate dieser Art erschienen, drückte auf Interpellation zwar die Stadtverordnetenversammlung ihre Missbilligung aus.

Es konnte aber damals schon festgestellt werden, dass die Miliz offenbar versagt hat, denn an den belebtesten Plätzen sah man die Zettel - am Großen Theater allein sechs Exemplare -, und sie blieben noch Tage lang kleben. Jetzt trat zunächst jemand mit der Unterschrift "General Omski" mit Flugzetteln hervor, in denen zur Schaffung von Kampforganisationen gegen die linken Parteien und gegen Juden aufgerufen und verlangt wurde, die angesehensten Juden als Geiseln festzunehmen. Dann erschien der Aufruf eines ”nationalen Komitees”, sich gegen die jüdische Masse zusammenzuschließen, deren Ziel es sei, Polen zu erobern.

Ein in der Presse wiedergegebener Auszug aus einem Plakat des "Exekutivkomitees der polnischen Republikaner”, verbreitet am 13. Oktober, wird als Anlage 5 angeschlossen. Bereits am nächsten Tage kam es in der Tat auf Warschauer Straßen zu tätlichen Angriffen auf jüdische Passanten gelegentlich eines nationalen Demonstrationszuges. Auch die polnischen Blätter können den Grund nicht in einem irgendwie taktlosen Verhalten der Juden erblicken, sie bemerken nur, dass die Schilderungen

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der jüdischen Presse übertrieben sind. Inzwischen dauern die unterirdischen Agitationen weiter.

Wenn es sich in diesen Fällen um Taten der fanatisierten Massen handelt, so ist seitens leitender polnischer Kreise vorläufig vor allem das Bestreben dahin gerichtet, zu verhindern, dass die Juden irgendein Organ zur Vertretung ihrer Wünsche und Forderungen schaffen. Gegen jüdisch-nationale Organisationen sind die Polen stets vorgegangen, wie man es besonders in Galizien beobachten konnte. Jetzt wollen sie sogar die Durchführung der Organisation der jüdischen Religionsgesellschaft verhindern oder wenigstens hinausschieben. Bekanntlich war im Generalgouvernement Warschau durch die Verordnung vom 1. November 1916 eine Organisation der Juden lediglich auf religiöser Grundlage gegeben worden. Wie wenig sie auf jüdisch-nationale Wünsche Rüoksicht nahm, konnte man unschwer aus der scharfen Kritik ersehen, der die Verordnung in der gesamten zionistischen und nationalistischen Presse ausgesetzt war. Trotzdem war sie den leitenden Kreisen Polens von jeher unbequem. Sie suchten die Durchführung der Wahlen in den Großgemeinden dadurch zu verhindern, dass sie mit stets neuen Vorschlägen auf Abänderung der Verordnung an die Okkupationsbehörden herantraten und zugleich baten, bis zur Entscheidung darüber die Wahlen auszusetzen. Jetzt, nachdem die Übergabe der Verwaltung an die polnischen Behörden in greifbare Nähe gerückt ist, haben sie dem - assimilatorischen - Warschauer Gemeindevorstand nahe gelegt, die Durchführung der

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Wahlen zu verweigern, und es erreicht, dass die Vorstandsmitglieder, trotzdem ihr Mandat seit vier Jahren abgelaufen ist, der an sie gerichteten Aufforderung nachgaben. Damit ist die Durchführung des Organisationsstatuts, das eine gedeihliche Entwickelung der jüdischen Gemeindeverhältnisse verbürgt, das aber auch den polnischen Interessen im hohen Maße entspricht, auf vorläufig nicht absehbare Zeit hinausgeschoben.

Die jüdische Öffentlichkeit aller Parteien (mit Ausnahme des assimilatorischen Kreises) hat gegen diese "Vergewaltigung” protestiert (Beispiel in Anlage 6). Da indessen die polnische Regierung sich ihre jüdischen Ratgeber stets aus den assimilatorischen Politikern gewählt hat, jetzt in der Person des Herrn Adalberg, so ist es nicht wahrscheinlich, dass diese Proteste irgendwelche Wirkung auslösen werden. Die Polen wollen offensichtlich zum Friedenskongress unter Ausschaltung der Juden als national einheitlich geschlossene Masse auftreten. Das zeigt auch eine in dem amtlichen Organ der Regierung, dem "Monitor Polski" erschienene Statistik (Anlage 7), mit der die zahlenmäßige Überlegenheit der Polen in Ostgalizien erwiesen werden soll, indem die Juden einfach national den Polen zugerechnet werden und die 600 000 Juden überhaupt nicht erscheinen. Um diese Fiktion aufrecht zu erhalten, soll der galizische Polenklub in Wien dahin gewirkt haben, dass die Beratungen zur Schaffung des jüdischen Nationalrats verboten und auch hier das nationale Recht der Juden nicht anerkannt würde.

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Auch aus der Provinz laufen Nachrichten wie die in Anlage 8 beigefügte ein, nach der in Stadtratsverhandlungen die jüdischen Gruppen nicht zum Worte zugelassen werden. Dabei ist zu betonen, dass sich die Forderung auf Berücksichtigung des nationalen Selbstbestimmungsrechts für die Juden auch in Kreisen durchsetzt, die bisher diesen Bestrebungen fern standen, weil man sieht, dass sonst eine gerechte Behandlung der Juden nicht zu erhoffen ist.

Der Zweifel an der Aussicht auf gerechte Behandlung der jüdischen Mitbürger ist erst zuletzt noch dadurch verstärkt worden, dass die erste von Polen gegründete Universität (in Lublin), wie die hiesigen jüdischen Zeitungen übereinstimmend berichten, den Juden grundsätzlich den Eintritt verweigert. Man will darin ein Symptom für die Haltung sehen, die künftig polnische höhere Lehranstalten den Juden gegenüber einnehmen werden.

gez. von Steinmeister.



Anlage I.

Rundschreiben an die jüdischen Vereine, die ihren Mitgliedern und anderen Personen billiges Brot verkaufen.

Wir teilen hierdurch mit, dass nach Erhalt dieses Schreibens unter Androhung der sofortigen Schließung alle Brotverkaufsstellen Ihrer Gesellschaft ohne Widerspruch am Samstag in der Zeit von 7 - 2 Uhr und 5 - 7 Uhr geöffnet sein müssen.

Gleichzeitig schicken wir eine entsprechende Verfügung an die Hauptverteilungsstelle.

Direktor der Lebensmittelsektion K. Ilski

Die Brotabteilung.


Info:


Archivsignatur: Verhältnis zwischen Polen und Juden, Warschau, 31. Oktober 1918, Bundesarchiv Berlin, R 1501 /119804.
Copyright: Verbreitung und Vervielfältigung nur zu wissenschaftlichen Zwecken.
Zitierweise: Verhältnis zwischen Polen und Juden, Warschau, 31. Oktober 1918, in: Viadrina Center B/Orders in Motion (Hrsg.): "Grenzen, Kriege und Kongresse. Die Neuordnung Ostmitteleuropas aus dem Erbe der Imperien, 1917-1923" - Ausgewählte Projektquellen, bearb. von Thomas Rettig. URL: https://www.borders-in-motion.de/de/forschungsprojekte/dreijaehrig/0_grenzen_kriege_kongresse/projektquellen/Verhaeltnis-Polen-Juden (Zugriff am xx-xx-xxxx)