„Die Neigung zur Friedhaftigkeit geht häufig einher mit einem Verlust an Analysefähigkeit“ – Joachim Gauck zu Gast an der Viadrina

Am 15. April 2024 war Bundespräsident a. D. Joachim Gauck zu Gast im Jerzy-Giedroyc-Kolloquium an der Viadrina. Mit klaren Worten ging er in seinem Vortrag und im Gespräch mit Gastgeber Prof. Dr. Andrii Portnov und den rund 250 Gästen ins Gericht mit der Ostpolitik der alten, und der Ukraine-Politik der neuen Bundesrepublik und appellierte an die Urteils- und Analysefähigkeit aller Bürgerinnen und Bürger. 

„So klare Worte zur Ukraine wie von Ihnen, sehr geehrter Herr Gauck, haben wir lange nicht gehört. Als Universität, die sich schon früh durch enge Kooperationen zur Ukraine bekannt hat, freuen wir uns auf den heutigen Abend mit Ihnen“, sagte Universitäts-Präsident Prof. Dr. Eduard Mühle. Auf eine „offene und ehrliche Diskussion“ freute sich auch Prof. Dr. Andrii Portnov, als Inhaber der Professur Professur Entangled History of Ukraine und Co-Leiter des Viadrina Center of Polish and Ukrainian Studies (VCPU) in diesem Semester Ausrichter des Jerzy-Giedroyc-Kolloquiums.

Joachim Gauck begann seinen Vortrag mit der Feststellung, dass er ja eigentlich für Zuversicht in Deutschland zuständig sei, und daher vom Titel seines neuen Buches „Erschütterungen“, den der Verlag vorgeschlagen habe, zunächst nicht begeistert gewesen sei. „Ich muss aber zugeben, der Verlag hatte recht.“ In mittlerweile hohem Alter habe er drei Perspektiven auf die Demokratie erlebt: als DDR-Bürger zunächst die Sehnsucht nach Demokratie, im wiedervereinigten Deutschland das Leben und aktive politische Wirken in der bundesdeutschen Demokratie und schließlich jetzt eine Demokratie, „die deutliche Schwächen zeigt und von außen und innen bedroht, ja wahrlich erschüttert ist: durch revanchistische Nachbarn und populistische Strömungen“.

Verhängnisvolles Missverständnis in der Ostpolitik

Um diesen kritischen Zustand der Demokratie in Deutschland zu verstehen, müsse man unbequeme Fragen stellen, auch sich selbst, so Gauck, der in seinem Vortrag zunächst zurückblickte auf die Ostpolitik der alten Bundesrepublik. Willy Brandt und Egon Bahr hätten – an sich lobenswert – die auf Konfrontation angelegte Ostpolitik Adenauers durch „Wandel durch Annäherung“ ersetzt und damit den Abschluss zahlreicher Abkommen und Verträge in rasantem Tempo, und schließlich auch die Akte von Helsinki 1975, ermöglicht. „Diese Ostpolitik war in den ersten Jahren von Erfolg gekrönt und ihr gebührt Respekt“, so Gauck.

Was dann folgte, war auf politischer Ebene die Ära Breschnew mit starker Verfolgung und zunehmender Repression, während sich zugleich in vielen Ländern Osteuropas Graswurzel-Proteste formierten, in Polen etwa eine Solidarność mit „immerhin neun Millionen Mitgliedern“. Brandt und Bahr hätten diese zivilgesellschaftlichen Proteste als „Unruhefaktoren“ interpretiert. „Bahr war entsetzt und sah, wie Brandt, den Annäherungsprozess gefährdet; – ein Missverständnis, aus dem die Sozialdemokratie, aber nicht nur sie, nur in Ansätzen herauskommt.“ Helmut Schmidt, der auf Gegenwehr gegen den Ostblock setzen wollte, habe sich mit einer starken Friedensbewegung konfrontiert gesehen, die „frei nach dem Motto, wenn die so goldig sind, dann rüsten wir ab“ die Zeichen der Zeit verkannt und auf Abrüstung gesetzt habe. Auch er selbst wäre überzeugter Anhänger dieser „schönen Idee“ der Friedensbewegung gewesen, wenn er in den 1970er-Jahren Bürger der Bundesrepublik gewesen wäre, räumte der Altbundespräsident ein. „Aus heutiger Sicht ein Fehler“, so Gauck.

Weckrufe aus dem Osten dringend benötigt

Was er mit diesem Rückblick nachzeichnen wolle, sei im Grunde etwas Tragisches, so Gauck: „Mit einem eigentlich positiven Politikansatz ist etwas Schlechtes erreicht worden. Die Neigung zur Friedhaftigkeit geht häufig einher mit einem Verlust an Analysefähigkeit.“ Und dieser Gestus habe sich, so die zentrale These Gaucks, nach der Wiedervereinigung wiederholt. Ein Beispiel hierfür sei etwa die Entscheidung Angela Merkels, auch noch im Jahr 2014 Nordstream II als privatwirtschaftliches Projekt zu sehen. „Wir müssen erkennen, dass aus strategischer Partnerschaft nicht nur Gegnerschaft, sondern auch Feindschaft entstehen kann. Da rollen Panzer und man spricht immer noch mit Russland. Eine Nation ist überfallen worden. Wenn man das nicht konsequent benennt und dem entgegentritt, steht nicht nur Fehlerhaftigkeit, sondern auch Schuld im Raum“, so Gauck.

Mit der Frage, wie Gauck vor diesem Hintergrund den aktuellen Konflikt in Nahost beurteile, stieg Andrii Portnov in die Diskussion ein. Er bekenne sich eindeutig und klar zu Israel, betonte Gauck und sagte: „Die zentrale Frage ist, wann fühlt sich der Iran so, dass er Abenteuer wagt, wie Putin.“ Zugleich bestehe die Gefahr, dass dieser Konflikt den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine überdeckt, so dass dieser aus dem Blick gerät. Bei vielen europäischen Regierungen setze „ein Wunschdenken“ ein, dass die Ukraine den Verteidigungskrieg gegen Russland „schon irgendwie“ werde gewinnen könne. Auch hier werde deutlich, dass das „im Westen tiefsitzende Gefühl scheinbarer Sicherheit die – leider bis heute zu wenig gehörten – Weckrufe aus Osteuropa dringend benötigt“.

Nach zwei Generationen Diktatur wird die Ohnmacht nicht mehr gespürt

An diejenigen „von uns ehemaligen DDR-Bürgern, die immer noch ein positives Russlandbild haben“, appellierte er, das System Putin kritisch zu hinterfragen. Putin sei allein an seinem Machterhalt interessiert. Um diesen sicherzustellen, beraube er die Bürger ihrer Freiheiten. „Das ist ein Prozess der Depotenzierung, der Strategien wie die Einschränkung freier Wahlen und der Meinungsfreiheit, Zensur, die Unterwerfung des Rechts unter die Macht und die Etablierung eines Angstapparates umfasst“, führte Gauck aus. „Derartig depotenzierte Bürger sehnen sich nach der kleinen Freiheit, die den Zustand der Unfreiheit erträglich macht.“ Vor diesem Hintergrund frage er sich, wie die „seltsame deutsche Anhängigkeit an Russland“ zustande komme. Eine Erklärung dafür sei aus seiner Sicht ein ausgeprägtes Stockholm-Syndrom.

Dieses Stockholm-Syndrom könne auch ein Stück weit erklären, entgegnete Gauck auf eine Frage aus dem Publikum, warum im Osten Deutschlands so wenig Solidarität mit der Ukraine anzutreffen sei. Es sei ein Schutzmechanismus nach der Devise: „Leg dich nicht mit denen an, die dir dein Leben schwer machen können“. Wenn man die Post-DDR-Gesellschaft betrachte, müsse man daher immer auch berücksichtigen, dass „es kein vorübergehendes Unwetter ist, wenn zwei Generationen in Diktatur leben. Dort passiert eine Umdeutung, so dass die Ohnmacht nicht mehr gespürt wird.“ Nötig sei hier ein Mentalitätswandel. Ein Mentalitätswandel, den es auch brauche, um die von häufig falschen Bildern geprägte Debatte in Deutschland über die Ukraine zu ändern, so Gauck auf eine weitere Einlassung aus dem Publikum. „Das ist nicht nur eine Frage des Wissens, sondern auch der Mentalität. Mentalitätswandel braucht Zeit. Wir müssen alle daran arbeiten und unseren Beitrag dazu leisten“, sagte Gauck.

Der Besuch von Altbundespräsident Gauck im Jerzy-Giedroc-Kolloquium war zustande gekommen, weil Joachim Gauck für sein jüngstes, gemeinsam mit Helga Hirsch verfasstes Buch „Erschütterungen: Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“ Kontakt zu Andrii Portnov aufgenommen hatte. „Sie haben meiner Ko-Autorin Helga Hirsch und mir Einblick in die ukrainische Perspektive gegeben. Wir haben Ihnen die Wahrnehmung der ukrainischen Stimmen zu verdanken“ hatte Gauck zu Beginn der Veranstaltung hervorgehoben.

Ein Mitschnitt der Veranstaltung ist auf dem YouTube-Kanal des Viadrina Center of Polish an Ukrainian Studies abrufbar.

Text: Michaela Grün
Fotos: Heide Fest